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Und plötzlich überschuldet...

Schuldnerberatung der AWO Göttingen erwartet eine Flut von Anfragen

Corona-Krise, explodierende Gas-, Strom- und Ölpreise, die Inflation auf Rekordhöhen, Experten erwarten bundesweit einen extremen Anstieg der Ver- und Überschuldungen. Auch in Südniedersachsen droht immer mehr Menschen die Schuldenfalle. In einem solchen Fall sind Schuldnerberatungen wichtige Anlaufstellen. „Spätestens im ersten Halbjahr 2023, wenn die Nebenkostenabrechnungen ins Haus flattern, rechnen wir mit einer Flut von Anfragen“, befürchtet Thomas Bode, Leiter der Schuldnerberatung der AWO in Göttingen und Hann. Münden und Referent für Schuldnerberatung des Bezirksverbandes der AWO Hannover. 

„Von der Verschuldung zur Überschuldung ist es manchmal nur ein kleiner Schritt“, weiß auch Kollegin Sarah Kleine. „Dramatisch steigende Energiekosten, die Tankrechnung und allgemein steigende Lebenshaltungskosten betreffen uns alle. Wenn in so einer Situation Ereignisse wie eine langwierige Krankheit, Arbeitsplatzverlust, eine Trennung oder ähnliches dazu kommt, dann gehörst du schnell zu den seit Jahren 7.000.000 überschuldeten Menschen in Deutschland!“

Dazu kommt das Thema Armut. In Deutschland leben über fünf Millionen Kinder in ärmlichen Verhältnissen, dazu kommt die rasant ansteigende Zahl bei der Altersarmut. Kleiderkammern und Tafeln werden überrannt, seit Jahrzehnten geht die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander, so die Kritik der Verbraucher- und Wohlfahrtsverbände. Bode: „Überschuldung betrifft aber nicht nur die ärmeren Mitbürger, zu unserer Klientel gehören alle gesellschaftlichen Schichten, vom Hartz IV-Empfänger bis zum Lehrer, Anwalt oder Apotheker.“ 

Stadt und Landkreis Göttingen schneiden laut Schuldenatlas im Vergleich zu anderen Regionen noch relativ gut ab, hier liegt der Schuldneranteil bei neun bis zehn Prozent. Das würde bedeuten, dass es im Landkreis etwa 33.000 überschuldete Menschen gibt, in der Stadt Göttingen rund 12.500. Die AWO führt in Göttingen und Hann. Münden jährlich rund 1.000 Beratungsgespräche. „Hauptursache sind definitiv Arbeitslosigkeit und Krankheit“, so Bode. In Zahlen sieht das laut Daten des Statistischen Bundesamtes bei den Ursachen für eine Überschuldung konkret so aus: Arbeitslosigkeit 19,4 Prozent, Erkrankung, Sucht, Unfall 17,8 Prozent und Trennung, Scheidung, Tod 11,8 Prozent. Die Fallbeispiele auf den folgenden Seiten geben einen Einblick in das Seelenleben von Betroffenen und in die Arbeit der AWO Schuldnerberatung.

Was Bode besonders ärgert: „Wenn man weiß, wie wichtig eine gute Beratung für die Überwindung der Überschuldung ist, leuchtet nicht ein, warum nicht alle, die in Schwierigkeit geraten, diese in Anspruch nehmen dürfen“, so Bode. Das sei auch der Grund, warum die Verbände an die Kommunen, die Länder und den Bund eine klare politische Forderung richten: „Wir fordern ein Recht auf kostenfreie und barrierefreie Beratung für jeden Bürger und einen konsequenten Ausbau der Beratungsstellen, mit einer stabilen Finanzierung. Mit der passenden Hilfe können Existenzen gesichert werden.“


Leser fragen – AWO Experte antwortet

Gemeinsam mit der AWO Göttingen bietet meineRegion Göttingen am 11. Oktober von18 bis 20Uhr unter dem Motto „Verschuldet – überschuldet – selber schuld?“ eine telefonische Moonlight-Sprechstunde an. Sie haben Schulden und wissen nicht mehr weiter? Alle Leserinnen und Leser haben an diesem Abend die Gelegenheit, ihre persönlichen Fragen zu stellen. Thomas Bode, Leiter der Schuldnerberatung der AWO in Göttingen und Hann. Münden, erwartet unter Telefon 05 51 / 500 91 36 Ihren Anruf und wird sich die Zeit nehmen, jede Frage zu beantworten und mögliche Wege aus der Schuldenfalle zu besprechen.  

 

„Die Depression kam schleichend...“

Lange Zeit ist es der 37-jährigen Frau S. gelungen, selbst vor engen Freunden und Familie ihre finanzielle Situation zu verbergen. Als Künstlerin war sie es gewohnt, immer von Auftrag zu Auftrag zu leben und hat sich in finanziell engen Situationen mit anderen Gelegenheitsjobs über Wasser halten können. Das hat lange Zeit funktioniert, bis sie krank wurde. „Die Depression kam schleichend, zuerst wusste ich gar nicht, was mit mir los ist und irgendwie habe ich mich auch geschämt“, sagt Frau S. Am Ende habe sie es nicht mal mehr geschafft, an den Briefkasten zu gehen, zu groß war die Angst vor weiteren Gläubigerbriefen. 

Frau S. kam mit ihrer Mutter, die seit einigen Jahren im Ausland lebt und nun bei ihrem Besuch erst erkannte, wie schlecht es ihrer Tochter wirklich geht. Frau S. ist seit nunmehr acht Monaten arbeitslos, hat aber keine Sozialleistungen beantragt. Sie sagt, die Depression habe sie einfach handlungsunfähig gemacht. Inzwischen sind rund 38.000 Euro Schulden aufgelaufen; davon entfallen alleine auf die Krankenkasse 35.000 Euro in Form von Zahlungsrückständen und Säumniszuschlägen. Die Versicherung hatte den Höchstsatz veranschlagt, da es Frau S. versäumt hatte, Änderungen ihrer wirtschaftlichen Situation zu melden. Das hat auch dazu geführt, dass Frau S. im Notlagentarif gelandet ist und somit nur noch eingeschränkt versichert ist. 
Dass man in Deutschland aus der normalen Krankenversicherung herausfliegen kann, habe sie gar nicht gewusst, sagt sie. Inzwischen liegt die Forderung beim Hauptzollamt, der Druck wird immer größer. Ihre Erkrankung, das fehlende Geld, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, geschweige denn ihre Schulden zu begleichen, die ständigen Inkassoschreiben und die Sorge, wie es heute, aber auch in Zukunft weitergehen soll – für Frau S. erscheint die Lage aussichtslos.

Seit dem Erstgespräch sind inzwischen etwa sechs Monate vergangen und vieles hat sich geändert. Nachdem die AWO-BeraterInnen sich gemeinsam mit ihr darum gekümmert haben, schnellstmöglich Sozialleistungen zu beantragen und eine ambulante Betreuung vermittelt haben, konnten man sich dem eigentlichen Thema Schulden zuwenden.
Frau S. hat mit Hilfe ihrer Mutter Briefe geöffnet, gesichtet und sortiert. Die AWO-Beratungsstelle hat eine Gläubigerliste erstellt und ausführlich über die Wege der Schuldenregulierung gesprochen. Von der Möglichkeit, durch ein Insolvenzverfahren aus der Überschuldung herauszukommen, hatte Frau S. schon gehört und in Abwägung ihrer Situation entschied sie sich letztlich dazu, diesen Weg gehen zu wollen.

Heute geht es ihr auch gesundheitlich wieder besser. Die Perspektive, den Schuldenberg in drei Jahren endlich loszuwerden, wieder finanziell neu beginnen zu können, haben ihr nicht nur eine große existenzielle Sorge genommen, so Frau S., sondern ihr auch die die Kraft gegeben, sich ihrer Krankheit zu stellen.


„Die Depression kam schleichend, zuerst wusste ich gar nicht, was mit mir los ist und irgendwie habe ich mich auch geschämt.“ Frau S., 37

 

„Ich habe mich einfach wertlos gefühlt"

Als der 59-jährige Herr K. vor dreieinhalb Jahren seinen Job aufgrund eines allgemeinen Stellenabbaus bei seinem Arbeitgeber verlor, hätte er niemals gedacht, dass er heute in der AWO-Beratungsstelle sitzt. Weil er einfach nicht mehr weiß, wie es weitergehen soll. Gut 25 Jahre hatte er bei einem mittelständischen Unternehmen gearbeitet, ein solides Gehalt bekommen, das für das Leben mit seiner Frau und dem inzwischen 20-jährigen Sohn ausreichte, wenn auch große Sprünge nie möglich waren. Herr K. berichtet, dass er trotz seines Alters eigentlich zuversichtlich war, als Facharbeiter schnell wieder einen Job zu finden. Dann kam Corona. Und auch zu Hause gab es immer mehr Probleme; die anhaltende Arbeitslosigkeit und zunehmenden finanziellen Engpässe belasteten die Ehe. „Irgendwann habe ich dann auch einfach zu viel und zu oft getrunken. Ich habe mich einfach wertlos gefühlt.“ Herr K. sagt, dass er verstehen kann, dass seine Frau irgendwann nicht mehr konnte und auszog. 
Auch finanziell war er nun auf sich alleine gestellt. Als dann auch noch unerwartet Rückzahlungen der Agentur für Arbeit wegen Überzahlung gefordert wurden, konnte Herr K. den laufenden Verpflichtungen endgültig nicht mehr nachkommen. Neben einem noch nicht abbezahlten Ratenkredit für die damalige Einrichtung der Wohnung waren noch viele weitere kleine Forderungen entstanden, die sich zu einer Gesamtverschuldung von fast 16.000 Euro aufgetürmt hatten.

Inzwischen ist Herr K. seit nunmehr zwei Jahren bei der AWO Göttingen in der Beratung. Als er damals zum Erstgespräch dort erschien, hatte sich die Lage deutlich zugespitzt. Der Gerichtsvollzieher war bereits da und nun wurde auch noch das Konto gepfändet. Herr K. berichtete, dass er nicht mal mehr wisse, wie er bis zum Ende des Monats Essen kaufen solle. Zudem war aufgrund steigender Energiepreise inzwischen ein Rückstand beim Stromversorger entstanden und es drohte der Wohnungsverlust. Gerade die Angst vor der Obdachlosigkeit bewegten Herrn K. dazu, den Weg in die Schuldnerberatung nun doch zu wagen, sagt er. „Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass ich mal einer von diesen Menschen sein werde.“
In Fällen wie dem des Herrn K., in denen Stromsperren oder gar der Wohnungsverlust drohen, ist schnelles Handeln besonders wichtig. Es zeigte sich, dass Herr K. bislang vor allem versucht hatte, die Zahlungen des Ratenkredits und der kleineren Forderungen am Laufen zu halten – eine falsche Priorisierung, wie die AWO-BeraterInnen sie oft in der Praxis sehen.

Auf Anraten stellte Herr K. diese Zahlungen zunächst einmal ein, um stattdessen wieder finanzielle Spielräume zu haben, um Strom- und Mietschulden so schnell wie möglich regeln zu können. Herr K. schilderte sowohl dem Energieversorger als auch seinem Vermieter offen und ehrlich seine derzeitige Situation, klärte die Höhe der Rückstände und es gelang ihm, eine Vereinbarung zu den laufenden Zahlungen sowie eine Abschlagszahlung auf die Rückstände zu vereinbaren. Zwar handelte es sich nur um kleine Ratenzahlungen, aber die Erleichterung über eine Lösung war groß und der Erfolg gaben ihm Mut, auch den Rest wieder in den Griff bekommen zu können.

Herr K. kommt nicht häufig, aber immer noch regelmäßig in die Beratungsstelle. Das gebe ihm Stabilität, sagt er: „Zu wissen, dass ich mit alldem nicht alleine bin, hier immer einen Ansprechpartner habe, das hilft wirklich sehr.“ Wie ein Großteil der überschuldeten Menschen hat sich Herr K. dazu entschieden, vorerst mit den Schulden zu leben. Das eingerichtete Pfändungsschutzkonto, die gemeinsam erarbeitete Haushaltsplanung und die Gewissheit, dass Strom und Miete nicht mehr gefährdet sind, haben den Umgang mit den noch bestehenden Schulden enorm erleichtert, sagt er. Einen Job hat er leider noch nicht gefunden, wodurch Vergleiche mit den noch übrigen Gläubigern kaum möglich sind. Ein Insolvenzverfahren kommt für ihn momentan nicht in Frage. Herr K. hofft, bald doch wieder einen feste Anstellung zu finden und dann den Rest seiner Schulden begleichen zu können.


„Niemals hätte ich es für möglich gehalten, dass ich mal einer von diesen Menschen sein werde.“ Herr. K., 59