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„Bücher müssen gut riechen“

Auf der internationalen Bühne unterwegs: Der Göttinger Drucker und Verleger Gerhard Steidl feiert seinen 75. Geburtstag. Foto: print.de / Christian Lukas
Auf der internationalen Bühne unterwegs: Der Göttinger Drucker und Verleger Gerhard Steidl feiert seinen 75. Geburtstag. Foto: print.de / Christian Lukas

von Lutz Conrad

Eigentlich wollte er Fotograf werden und durch die Welt reisen. Dazu reichte es nach eigener Einschätzung nicht. Also verlegte er sich auf das Drucken. Eine richtig gute Idee war das, so rückblickend betrachtet. Der Beginn einer einzigartigen Karriere, die ihren Anfang nahm in einer Garage an der Göttinger Bürgerstraße. Zu seinen Lehrmeistern gehörten Andy Warhol und Joseph Beuys, zu seinen Kunden gehörten und gehören Weltstars wie Günter Grass, Karl Lagerfeld, Keanu Reeves, Bryan Adams oder auch das Modehaus Chanel. Am 22. November wird der Göttinger Drucker und Verleger Gerhard Steidl 75 Jahre alt. Wir haben ihn in seinem Verlag an der Düsteren Straße besucht. In dem Gespräch skizziert Steidl seinen Aufstieg vom Göttinger Arbeiterkind zum weltweit anerkannten Großverleger, zum „besten Drucker der Welt“, wie ihn Lagerfeld bezeichnete. 

Gerhard Steidl mit der Rocklegende und dem Starfotografen Bryan Adams. Foto: Steidl-Verlag

Es ist Sonntag, die Göttinger Innenstadt füllt sich langsam, es ist Gänselieselfest. In der Düsteren Straße ist es ruhig. Kein Firmenschild, nur eine Klingel. Der Chef persönlich ist an der Sprechanlage und begrüßt uns im weißen Kittel, in Jeans und Turnschuhen. Es beginnt die Suche nach einem geeigneten Platz. Ob Treppenstufen, Stühle, Fensterbänke oder Schreibtische, in allen Räumen und Etagen ist alles voller Bücher, Skripte und Fotos. Dem Besucher wird sofort klar: Hier wird hart gearbeitet, hier werden Bücher nicht nur produziert, sondern gelebt. 


Gerhard Steidl (l.) mit Modezar Karl Lagerfeld. Foto: Steidl-Verlag

Aufgewachsen in einfachen Verhältnissen 

Gerhard Steidl kommt aus einfachen Verhältnissen, der Vater zunächst Bäckereigehilfe im tschechischen Sudetenland, später in Göttingen reinigte er dann die Druckmaschinen der örtlichen Tageszeitung. Die Mutter als Waisenkind auf einem Bauernhof im polnischen Sudentenland aufgewachsen, arbeitete in einer Göttinger Kaffeerösterei und packte dort den Kaffee ab. Mit Büchern hatte die Familie wenig zu tun, deutlich mehr prägte den jungen Gerhard die acht Jahre ältere Schwester, die in einer Musikalienhandlung arbeitete. Dort kam Steidl viel mit neuen Büchern und aktuellen Schallplatten in Berührung, von Bob Dylan und Joan Baez zum Beispiel. 

„Zunächst habe ich als Fotograf angefangen. Ich habe meine Fotos verwendet für Plakat-Entwürfe für die Göttinger Kulturszene, Junges Theater, Deutsches Theater, Göttinger Symphonieorchester in den 70er Jahren. Und habe dann angefangen, weil mir die Druckqualität der Plakatdrucker hier in Göttingen zu schlecht war, diese Plakate selbst zu drucken. Da habe ich gemerkt, dass ich eigentlich lieber als Gestalter arbeiten wollte, mit meinen eigenen Fotos, später aber dann auch mit anderen Fotos, und dass ich das Drucken geschätzt habe. Diese handwerkliche Tätigkeit in Verbindung mit der Gestaltung von Büchern ist auch heute mein Hauptjob“, so Steidl. Kurzzeitig fotografierte Steidl auch Schaufenster in der Göttinger Innenstadt, verkaufte die Fotos an die Besitzer und unterstützte sie bei der Schaufenster-Dekoration. „So habe ich mit 17 Jahren mein Geld verdient.“


Alles begann in einer Garage an der Bürgerstraße 

Angefangen hat Steidl mit dem Siebdruck, der extrem einfach für den Plakatdruck ist. „Man hat einen Holzrahmen, der bespannt ist mit einem Gewebe, das beschichtet wird mit einer Fotoemulsion. Mit einer Langzeitbelichtung wird das Motiv, das man drucken möchte, auf das Sieb kopiert. So kann man mehr oder weniger im Handbetrieb 100 Plakate drucken“, erklärt er auch heute noch mit Begeisterung. Etwas später kam eine Siebdruckmaschine dazu. Steidl: „Dann wieder etwas später, als ich gemerkt habe, dass man die Bücher natürlich nicht im Siebdruck drucken kann, eine kleine Offset-Maschine von Heidelberger in DIN A4, eine in DIN A2, eine in DIN A1, dann eine in zwei Farben und so weiter. Angefangen habe ich in einer angemieteten Garage in der Bürgerstraße. Das war das, was ich mir leisten konnte. Mein Elternhaus war praktisch genau gegenüber. Nicht nur Steven Jobs hat in der Garage angefangen“, so Steidl mit einem Augenzwinkern. Zu seinem wichtigsten Lehrmeistern zählten in dieser Zeit Joseph Beuys und Andy Warhol, den Steidl im Alter von 17 Jahren auf einer Ausstellung in Köln kennengelernt und angesprochen hatte und der ihn darauf in seine New Yorker Factory einlud, um dort bei Gerald Malanga, damals Warhols Assistent, den Siebdruck zu perfektionieren. „Das war ein Zwei-Tage-Crashkurs in Sachen Siebdruck“, so Steidl, der immer wieder betont, dass er sich in erster Linie als Drucker und Handwerker sieht und weniger als Verleger oder gar als Künstler. 


Gerhard Steidl (r.) mit Nobelpreisträger Günter Grass. Foto: Steidl-Verlag

Der Steidl-Verlag in Zahlen 

Der Steidl-Verlag wuchs und wuchs, Wegbegleiter bezeichnen Steidl als leidenschaftlich, akribisch, sorgfältig, detailversessen, respektvoll und neugierig, um nur einige Attribute zu nennen. Für den Göttinger Verleger gibt es quasi kein Leben neben dem Job: er steht täglich um 4.30 Uhr auf, ist eine Stunde später im Verlag und arbeitet täglich zwei Schichten an sieben Tagen in der Woche. Der Rest sind Flugreisen rund um die Welt („Ich lebe in Göttingen, mein Arbeitsplatz ist die Welt“), zumal Steidl auch weltweit Ausstellungen konzipiert und kuratiert. Die wichtigsten Absätzmärkte für den Steidl-Verlag mit seinen 35 MitarbeiterInnen sind New York und Hongkong mit rund 40 Prozent. Jährlich werden rund 300 Projekte realisiert, darunter 120 Fotobücher (bei rund 1500 Anfragen). 2500 Tonnen Papier werden jährlich in der hauseigenen Druckerei verarbeitet. 

Erfolgsrezept: Respekt und Austausch

Das wichtigste Erfolgsrezept des Göttinger Verlegers ist die enge Zusammenarbeit mit den jeweiligen Kunden. Die Anwesenheit der Künstler, Fotografen oder Autoren direkt vor Ort in Göttingen ist für Steidl gerade in der ersten Planungsphase mit dem Austausch von Ideen und dann in der Woche vor Fertigstellung eine Bedingung. Steidl: „Was wir da anbieten, ist eine sorgfältige Betreuung von der Verlagsseite her. Das heißt, dass man respektvoll mit den künstlerischen Inhalten umgeht. Das sind in unserem Falle Manuskripte oder eben Fotos.“ Jedes Steidl-Buch zeichnet sich durch seine individuelle Gestaltung und Ausstattung aus. Der für seine Papierleidenschaft bekannte Drucker und Verleger wählt Papier und Leinen persönlich aus und überprüft sämtliche Produktionsschritte vom Layout bis zum Druck. Jedes Steidl-Buch geht also wortwörtlich durch Gerhard Steidls Hände. Zweiter Erfolgsfaktor: Alles passiert unter einem Dach. Steidl: „Also oben in der Bibliothek sitzen wir mit dem Künstler, seinen und unseren Ideen und da wird diskutiert. Und dann muss man sich das so vorstellen: Die Idee wandert oben ins Designstudio, von dort ins Bildstudio und vom Bildstudio in die Druckerei. Und am Ende geht von der Druckmaschine symbolisch ein fertiges Buch auf die Palette. So müssen sie sich das vorstellen.“ 

„Unsere Bücher sind Kunstobjekte“ 

Wenn Steidl über Bücher und deren Produktion spricht, ist seine Begeisterung unübersehbar und jederzeit spürbar. Beispiel? „Wenn wir Bücher machen, zaubern wir in gewisser Weise. Wir zaubern auf weißem Papier. Und wir stellen eine Atmosphäre her.“ Und seine Ansprüche sind hoch: „Steidl-Bücher bedienen alle ästhetischen Sinne, sie sind in erster Linie natürlich für die Augen. Dann die Haptik! Wir haben eigene Papiere entwickelt mit Papierfabriken, die wir exklusiv verwenden. Wie fasst sich das an? Auch das Berühren ist bei einem Buch wichtig. Dann der Geruch! Unsere Bücher riechen gut und sie riechen überhaupt. Im heutigen Digitaldruck werden Lacke über das Druckbild gezogen, Dispersionslacke. Da ist überhaupt kein Geruch mehr da, die riechen nicht. Da sind die Leute auch enttäuscht. Die sagen dann, Steidl-Bücher riechen gut und andere Bücher riechen gar nicht. Und manche stinken auch, wenn die Leute falsche Lacke einsetzen, dann kommt da nichts Vernünftiges bei raus. Und zuletzt das Hören! Da knistert Papier, man blättert die Seiten um, da muss dieses Knistern kommen.“ Und weiter: „Unsere Bücher sind Kunstobjekte mit besonderem Aufwand. In dieser Qualität findet man auf dem Globus nur noch wenige Verlage, die das beherrschen, maximal zehn.“ In einem Interview mit dem Süddeutsche Zeitung Magazin rechnete er vor: „Ich mache Bücher für die Ewigkeit. 500 Jahre würde ich meinen Büchern schon geben. Ich recherchiere sehr aufwendig, welche Papiere, Farben, Bindematerialien in Frage kommen, da gehe ich kein Risiko ein.“ 

Zum Zeitpunkt unseres Interviews arbeiteten Steidl und sein Team natürlich an zahlreichen neuen Projekten. „Das ist Gide Niedringhaus, die Schwester von Anja Niedringhaus“, stellt er uns eine Besucherin vor. Und erklärt: „Anja Niedringhaus war eine deutsche Fotojournalistin und AP-Fotografin, die 2014 in Afghanistan von einem Attentäter erschossen wurde – sie hat übrigens auch einst in Göttingen studiert und fotografiert. Im Moment ist eine siebenbändige Buchausgabe mit ihren Fotos in Arbeit. Wir haben dafür 300.000 Fotos digitalisiert und gesichtet und sind in der Endauswahl der Fotos.“ 


Gerhard Steidl und Gide Niedringhaus sichten gemeinsam Fotos. Foto: Marks

„Die Arbeit ist mein Hobby und meine Leidenschaft“, sagt der 74-Jährige und ans Aufhören denkt er nicht. „Ich habe lebenslänglich“, antwortet er auf die entsprechende Nachfrage. Eine Wunschvorstellung von seinem Tod hat er auch schon, wie er in Interviews verraten hat: „Das Treppenhaus hier ist von oben bis unten vollgepackt mit Bücherstapeln. In meiner Lieblingstodesfantasie renne ich durchs Treppenhaus, auf dem Weg zur Druckerpresse, und wenn ich unten auf der letzten Stufe bin, fällt der ganze Schamott in sich zusammen und ich werde begraben unter dem Haus und all' den tausend Büchern. Herrlich!“ Vorgesorgt hat Steidl auf jeden Fall: „Die nächste Generation kann die Steidl Stiftung nutzen. Und ein Teil der Stiftung ist die Steidl Akademie Stiftung, die das Ziel hat, junge Leute auszubilden in all' den Techniken und vertraut zu machen mit den Erkenntnissen, die ich in meinem Leben gewonnen habe.“

Gerhard Steidl – Steckbrief 

  • 1950: Gerhard Steidl wird am 20. November in Göttingen geboren 
  • 1967: Treffen mit Andy Warhol auf einer Ausstellung in Köln, später lernte Steidl den Siebdruck in Andy Warhols legendärer Kunstfabrik
  • 1968: Gründung des Steidl-Verlags
  • 1969: Druck der ersten Plakate in der Siebdruckwerkstatt
  • 1970: Kooperation mit dem Plakatkünstler Klaus Staeck
  • 1972: Mit „Befragung der documenta“ erscheint das erste Steidl-Buch
  • 1974: Eintrag als Siebdruck-Meister in die Handwerksrolle
  • 1993: der Steidl-Verlag erhält die Weltrechte an den Werken des Nobelpreisträgers Günter Grass
  • 1993: Beginn der Zusammenarbeit mit Karl Lagerfeld
  • 1994: eigenes Fotobuchprogramm
  • 2010: Die Filmfestival Leipzig eröffnet mit dem 90-minütigen Dokumentarfilm How to Make a Book With Steidl
  • 2015: Eröffnung des Günter-Grass-Archivs durch Gerhard Steidl
  • 2020: Steidl wird als erster Nicht-Fotograf mit dem Preis für „Herausragende Leistungen für Foto-grafie“ der Sony World Photography Awards ausgezeichnet
  • 2020: Gutenberg-Preis
  • 2021: Mit dem Initiator und Gründungsdirektor Gerhard Steidl wird das Göttinger Kunsthaus eröffnet
  • 2021: Großes Verdienstkreuz des Landes Niedersachsen
  • 2022: Steidl investiert 2,5 Millionen Euro in eine Premium-Druckmaschine


Steidl-Trio: Verleger unter sich (v.l.): Gerhard Steidl und Jörg Christian Bornhoff (Herausgeber meineRegion Göttingen), Redakteur Lutz Conrad hört aufmerksam zu. Foto: Marks