Als im Winter 2015 die Bilder von flüchtenden Familien aus Syrien und anderen Krisenregionen Europa erreichten, begann in Eschwege etwas, das bis heute anhält: eine zielstrebige, aber unkonventionelle Form der Nächstenliebe. Was damals mit einem improvisierten Hilfstransport begann, ist heute ein Verein, der regional wie international Leben verändert.
Ein Vereinsporträt von Susanne Wesche
Im Dezember 2025 feiert „Eschwege hilft“ sein zehnjähriges Bestehen. Die Anfänge wirken heute fast unwirklich: Menschen, die mit Sommersachen im deutschen Winter ankamen. Ein überfülltes Erstaufnahmelager in Friedland. Bürgerversammlungen mit mehr als 1000 Teilnehmenden in Eschwege, ein aufgeschrecktes Land und ein berühmter Satz: „Wir schaffen das“. In dieser Gemengelage hörte Karl Montag, heute Vereinsvorsitzender von „Eschwege hilft“, einen Satz, der alles auslöste: „Die Kinder schlafen in Friedland auf dem Fußboden, wir brauchen Matratzen.“ Dolmetscherinnen aus Eschwege hatten ihm davon berichtet. Karl Montag, besser bekannt als „Charly“ ging an die Presse, trommelte Helfer zusammen und wenig später rollten zwei große THW-LKWs mit gespendeten Matratzen und Kleidung nach Friedland. Fast 100 Menschen waren spontan da, halfen, sortierten, packten. Als es wenige Tage später hieß, in Eschwege würden bis zu 1000 geflüchtete Menschen untergebracht, richtete die Gruppe eine Kleiderkammer ein. Die provisorische Initiative blieb, auch als das erste Lager für geflüchtete Menschen nach knapp einem Jahr wieder schloss.
Es folgte 2021 der offizielle Schritt: die Gründung des Vereins „Eschwege hilft e.V.“. Mehrfach musste man seitdem umziehen. Erst aus dem Kaufhaus, dann in die Innenstadt und schließlich ins ehemalige Verwaltungsgebäude der Eschweger Brauerei, die den Verein bis heute großzügig unterstützt.
Hilfe, wo sie gebraucht wird
Der Vereinsname mag bescheiden klingen, doch die Reichweite ist groß. Was als lokale Initiative begann, wurde überregional. Als 2021 das Ahrtal verwüstet wurde, brachte der Verein Schippen, Spaten und Schneeschieber in die zerstörten Orte. Persönlich wurden dann auch geschädigte Familien gezielt unterstützt, weil man Betroffene kennengelernt hatte. Als 2023 die Türkei von einem schweren Erdbeben getroffen wurde, kamen türkische Familien aus Eschwege und Umgebung mit einer Bitte: Die Angehörigen brauchen dringend Hilfe. „Eschwege hilft“ sammelte, organisierte und fuhr einen 40-Tonner voll Hilfsgüter selbst nach Anatolien. Und dann kam der Krieg in der Ukraine. Bereits am zweiten Abend standen die ersten ukrainischen Familien im Werra-Meißner-Kreis. Man vermittelte Wohnungen, schoss Gelder vor, gab jedem ankommenden Menschen 25 Euro Handgeld. Der lokale EDEKA Neukauf Zeuch spendete Lebensmittelgutscheine im Wert von 10.000 Euro. Der Verein begann Hilfstransporte in die Ukraine zu organisieren. Bis heute 23 voll beladene 40-Tonnen-LKW, der 24. steht kurz vor der Abfahrt. Care-Pakete, Medikamente, Kleidung und Möbel wurden nach Kiew gebracht. Andere Transporte versorgten Fluchtdörfer oder Krankenhäuser. Ein Dankesbrief von Vitali Klitschko erreichte den Verein. Das war der Moment für die Helfenden in Eschwege, der ihnen zeigte: Ihre Hilfe kommt wirklich an.
Regionale Unterstützung
Doch der Verein wirkt längst nicht nur international. Immer mehr Menschen aus Eschwege und Umgebung suchen Hilfe: Familien, deren Budget zum Monatsende knapp wird. Ältere Menschen ohne Winterjacke. Opfer von Wohnungsbränden, die plötzlich mit nichts dastehen. Der Verein unterstützt lokale Initiativen wie die Nachhilfeprojekte „Helikopter“ und „Die Arche“ in Hessisch Lichtenau, hilft bei Kleiderbedarf, vermittelt Möbel und fängt Notlagen auf. Zweimal pro Woche öffnet das große Sozialkaufhaus in der alten Brauerei. Insgesamt engagieren sich 50 Ehrenamtliche im Verein. Sie kommen aus sieben Nationen. Ohne sie, so Karl Montag, „würde es gar nicht gehen“.
Was gebraucht wird
Kleidung, Kleinmöbel und Haushaltswaren werden laufend benötigt. Doch die Bedarfe im Ukraine-Krieg haben neue Dimensionen: Medikamente, Hilfsmittel (Rollatoren, Pflegebetten, Windeln), orthopädisches Material, gut erhaltene Haushaltsgeräte, warme Kleidung, Decken und Winterausrüstung. Viele Ukrainer kaufen im Sozialkaufhaus selbst Dinge ein und schicken sie direkt weiter an Verwandte. Ein stiller Kreislauf der Solidarität.
„Geldspenden sind entscheidend: Ein Transport kostet bis zu 3000 Euro. Finanziert wird der Verein vor allem durch: private Spenderinnen und Spender, Verkauf nicht benötigter Gegenstände vor Ort, Fördermittel der Stadt Eschwege, Unterstützung durch Lions, Rotarier, Sparkasse und weitere Vereine, wie zum Bespiel Landfrauenvereine, deren Mitglieder wichtige Multiplikatorinnen in ihren Dörfern sind“, so Charly Montag.
Wachsende Nachfrage, wachsende Sorgen
Die größte Herausforderung ist derzeit Platzmangel. Die Lagerräume reichen nicht mehr aus, weil sowohl die lokalen Hilfebedarfe als auch die Ukraine-Spenden steigen. Der Verein sucht dringend größere Flächen und außerdem Unternehmen, die Materialien spenden können, die in Krisengebieten gebraucht werden: Feuerlöscher, Batterien, Taschenlampen, haltbare Lebensmittel, Krankenhausbedarf. Karl Montag spricht offen über ein Gefühl, das viele teilen: Anerkennung kommt oft weniger von großen Institutionen als von den Menschen selbst. Beispiel: eine landesweite Spendensendung im Hessischen Rundfunk. Das gesammelte Geld geht komplett an ein bundesweites Bündnis und nicht an lokale Vereine wie „Eschwege hilft“. „Das finde ich schade“, sagt Montag. „Wir wissen, wie viel hier in der Region gebraucht wird.“