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„Du wirst gesehen“ - Tierschutzverein organisiert Hilfsaktion für Obdachlose in Kassel

Das Team der Spendenaktion für Obdachlose in Kassel. Foto: TSV/Marks
Das Team der Spendenaktion für Obdachlose in Kassel. Foto: TSV/Marks

Kassel, Montag, 22. Dezember 2025. Es ist einer dieser kalten Wintertage, an denen der Atem in kleinen Wolken vor dem Gesicht steht. Vom Kassler Weihnachtsmarkt weht der Duft von gebrannten Mandeln und Bratwurst herüber, ein Akkordeon spielt „Leise rieselt der Schnee“. Am Rand der Budengasse sitzt eine Frau auf einer Isomatte, Reste eines karminroten Lippenstifts zeichnen ihren Mund, tiefe Falten liegen wie Lebenslinien in ihrem Gesicht. Miriam K. 75 (Name von der Redaktion geändert) lebt seit Jahren „auf der Platte“, hier, mitten im Lichterglanz der Innenstadt, wo der Unterschied zwischen "arm und reich" besonders gut sichtbar wird. Viel hat Miriam in dieser Zeit erlebt. Vieles, an was sie sich lieber nicht mehr erinnern möchte. Besonders für Frauen ist das Leben auf der Straße mit hohen Risiken verbunden. „Es ist hart, das Leben auf der Straße - vor allem als Frau“, sagt sie mit einem traurigen Blick. Doch das Schicksal hat ihr keinen andere Wahl gelassen. 

Svenja R. vom Tierschutzverein Werratal e.V. im Gespräch. 

Als sich an diesem Vormittag elf Helferinnen und Helfer mit Schlafsäcken, Kleidung, dicken Socken, Jacken, Mützen, Handschuhen, Hundefutter, Leinen, Halsbändern, belegten Brötchen, heißem Tee und selbstgebackenen Keksen nähern, blickt sie erst misstrauisch. Dann bricht ein Lächeln durch. Die Gruppe – viele junge Menschen aus Kassel, Göttingen, Hann. Münden und Witzenhausen- verteilt ihre Spenden rings um den Weihnachtsmarkt und in den Seitengassen.

Der Tierschutzverein Werratal e.V., der sich in erster Linie um Tiere von Göttingen bis nach Kassel kümmert, hatte zuvor einen Aufruf zur Spendensammlung für diese Aktion über soziale Netzwerke gestartet, wodurch viele Sachspenden zusammenkamen. Auch Kölle Zoo aus Kassel beteiligte sich mit einer Sachspende von 500,00 Euro an dieser Aktion. 

Große Dankbarkeit zeigte sich auf den Gesichtern der Menschen.

Vor einer Kirche trifft die Gruppe auf Jana und ihren Kompagnon, die sich in mitten der Kälte versuchen warm zu halten. Jana wird begleitet von einer kleinen Mischlingshündin, die beim näher kommen, alarmierend zu bellen beginnt. Schnell beruhigt sich die Situation, als einige der Helfer alle mit Leckereien und Kleidung versorgen. Beide freuen sich über die Begegnung. Als die Gruppe weiterzieht, weint Jana, weil sie nicht damit gerechnet hat heute so eine warme Geste zu bekommen- und auch einige der Helfer zeigen sich tief berührt und haben Tränen in den Augen. „Wie schön es ist, etwas zu geben, das andere so glücklich macht – das haben wir alle wohl ein bisschen aus den Augen verloren“, sagt Alicja Przybyla vom Tierschutzverein Werratal, die die Aktion zum zweiten Mal initiiert hat. „Uns ging es nicht nur um Dinge. Uns ging es um Gespräche, um Zuhören. Um das Gefühl: Du wirst gesehen.“

Begegnungen statt Almosen

Immer mehr Menschen kommen, um Geschenke einzusammeln. Schnell hat sich offenbar herumgesprochen, dass es in der Stadt etwas zu Weihnachten gibt. Die Menschen, die hier auf der Strasse leben, sind untereinander gut vernetzt. Ein Mann mit verfilztem Bart streichelt seinen Hund, als er eine Decke und einen Beutel Trockenfutter in die Hände bekommt. Er ist den Tränen nah. „Der Hund ist für viele hier Familie“, erklärt Alicja Przybyla. „Wer auf der Straße lebt, lebt selten allein – vier Pfoten helfen durch die Nacht. Darum gehören Tierfutter und Decken immer in unseren Wagen.“


Zwischen Thermoskannen und Tüten entstehen Gespräche: über Kälte, über Scham, über die Frage, wie man von heute auf morgen auf der Straße landen kann. „Wir haben festgestellt, dass wir es mit ganz normalen Menschen zu tun haben, deren Leben einfach einen anderen Plan hatte“, erzählt Alicja Przybyla. Eine Trennung, ein Jobverlust, Schulden. Manchmal reicht ein einziger Stein, der ins Rollen kommt.

Und dann passiert etwas, das auch die Helfer rührt: Eine junge Frau, die Weihnachtsgeschenke einkaufen war, drückt der Gruppe ein paar Scheine in die Hand. „Kauft bitte noch mehr Essen“, sagt sie leise. „Damit es für alle reicht.“ Die Helfer kaufen nach, bringen neue Tüten mit Brötchen und Orangen. „Es tut nicht weh, freundlich zu allen Menschen zu sein“, sagt Alicja Przybyla und zieht den Schal fester. „Heute hatten einige ein herzliches Erlebnis und eine kleine Freude. Mit diesem Glücksgefühl gehen wir ins neue Jahr – und schauen öfter nach rechts und links.“



Am Ende dieses Tages sind die Thermoskannen leer, die Keksdosen auch. Die Frau mit dem roten Mund winkt noch einmal, bevor sie die Decke um die Schultern zieht. Die Helfer gehen, müde und bewegt. „Wenigstens heute war die Stadt ein bisschen wärmer“, sagt Svenja R. vom Tierschutzverein Werratal. Zwischen den Kartons voller Handschuhe und Socken, zwischen Hundefutter und Halsbändern, sammelt sich etwas, das nicht messbar ist: Nähe. „Wir leben im Überfluss – und sehen heute, dass sich Menschen über die kleinsten Dinge freuen: eine trockene Socke, ein heißer Tee, ein freundliches Wort.“ – sagt Helferin Bea. „Viele schämen sich, Hilfe zu nehmen. Wenn du einfach danebenstehst , wenn du zuhörst – dann wird aus einer Ausgabe ein Gespräch.“ – Helferin Leonie . „Straßenleben ist kein Charakterurteil. Es ist eine Kette aus Zufällen, Krisen, Entscheidungen. Wer hilft, unterbricht manchmal diese Kette.“ – Helferin Janina. „Und die Hunde? Sie sind für viele hier die Konstante. Wer die Tiere versorgt, versorgt auch die Menschen.“ – Alicja Przybyla.

Auch im nächsten Jahr wollen die Helferinnen und Helfer vom Tierschutzverein Werratal e.V. erneut sammeln, um obdachlosen und hilfsbeürftigen  Menschen vor Weihnachten eine Freude zu bereiten. "Das nächste Mal nehmen wir aber viel mehr Schlafsäcke mit", sagt Svenja R. sichtlich gerührt.

Zahlen, die die "Kälte" erklären

Die Geschichten dieses Tages stehen nicht im luftleeren Raum. Sie spiegeln eine Entwicklung, die auch Daten bestätigen. Nach Angaben der Stadt Kassel galten im Jahr 2023 insgesamt 1.339 Personen in 808 Obdachlosenhaushalten als wohnungslos – mehr als doppelt so viele wie zehn Jahre zuvor. Die Zahl der Menschen, die tatsächlich auf der Straße leben, schätzt die Stadt auf rund 150.

Laut dem vom Bundesministerium für Wohnen beschlossenen Wohnungslosenbericht 2024 waren Ende Januar/Anfang Februar 2024 rund 439.500 Personen untergebracht, etwa 60.400 lebten verdeckt bei Angehörigen oder Bekannten, und rund 47.300 Menschen hatten gar keine Unterkunft. Unter Berücksichtigung von Doppelzählungen ergibt sich eine Gesamtzahl von etwa 531.600 wohnungslosen Menschen. Das Statistische Bundesamt meldete für den Stichtag 31. Januar 2025 rund 474.700 untergebrachte wohnungslose Personen – ein Zuwachs gegenüber 2024, der auch auf verbesserte Meldungen zurückgeführt wird. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) kommt in einer Hochrechnung für das Jahr 2024 auf 1.029.000 wohnungslose Menschen im Jahresverlauf, davon rund 56.000 ohne Unterkunft. Solche Verbandszahlen liegen erfahrungsgemäß über den amtlichen Stichtagswerten, weil sie andere Erfassungslogiken nutzen und den Jahresverlauf betrachten.  

Diese Spanne zwischen amtlicher Statistik und Verbands-Hochrechnung erklärt, warum die Wirklichkeit auf der Straße mitunter „größer“ wirkt als die Zahlen im Bericht: Nicht jede Biografie taucht im System auf, nicht jede Nacht auf der Couch bei Freunden wird sichtbar gemacht.

Mithelfen für Menschen in Not in Kassel

Wer selbst helfen möchte, findet in Kassel niedrigschwellige Angebote und Ansätze wie „Housing First Kassel“, bei dem freie Träger gemeinsam mit der Stadt Menschen zuerst in eigenen Wohnraum bringen und dann flexibel begleiten. Anlaufpunkt für akute Fälle ist die Zentrale Fachstelle Wohnen (ZFW); der Sozialkompass Kassel bündelt Kontakte zu Hilfen für Wohnungslose. 

Transparenzhinweis: Die lokalen und bundesweiten Zahlen stammen aus offizieller Berichterstattung und seriösen Medien; sie werden in der Reportage als Hintergrund eingeordnet.