Werbung
Artikelfoto Foto: Lars Gargulla

„Alle müssen mitmachen!“

Klimaplan 2030: Interview mit Oberbürgermeisterin Petra Broistedt

Der Klimaplan Göttingen 2030 wurde in den Jahren 2020 und 2021 unter intensiver Beteiligung der Stadtgesellschaft erarbeitet und wurde am Freitag, 16. Juli 2021, vom Rat der Stadt Göttingen beschlossen. Der Klimaplan stellt die Fortschreibung des „Masterplan 100% Klimaschutz“ aus dem Jahr 2014 dar. Sein Ziel ist ein klimaneutrales Göttingen bis 2030. Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen. „meineRegion Göttingen“ sprach mit Göttingens Oberbürgermeisterin Petra Broistedt über bisher Erreichtes, über den aktuellen Stand der Dinge und darüber, was bis 2030 noch alles passieren muss.


meineRegion: Im Jahr 2020 wurde der Klimaplan Göttingen 2030 auf den Weg gebracht mit dem ehrgeizigen Ziel, eine klimaneutrale Stadt Göttingen zu erreichen. 2021 wurde er beschlossen. Welche Zwischenbilanz können Sie heute ziehen?

Petra Broistedt: Der Masterplan 100 % Klimaschutz hatte als Zielsetzung die Klimaneutralität – allerdings erst im Jahr 2050. Die Evaluation des Masterplans hatte ergeben, dass die Geschwindigkeit, mit der die Treibhausgase reduziert werden sollte, gar nicht ausreicht, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen. Deshalb haben wir gemeinsam mit der Stadtgesellschaft den Klimaplan Göttingen 2030 erarbeitet. Hinzu kam die Pariser Klima-Konferenz, auf der das 1,5 Grad-Ziel beschlossen wurde. Auch das hat deutlich mehr und schnellere Maßnahmen zum Klimaschutz erforderlich gemacht. Der Klimaplan Göttingen 2030 wurde 2021 beschlossen, also vor anderthalb Jahren. Dafür haben wir schon sehr viel erreicht und ich will ein paar Stichworte nennen: Wir entwickeln das Neubaugebiet Lange Rekesweg in Grone als klimaneutrales Modellquartier. Es wird Vorbildcharakter für Göttingen und die Region haben. Zusätzlich haben wir alle Vorbereitungen getroffen, um in ausgewählten Quartieren die energetische Sanierung gemeinsam mit allen Eigentümer*innen durch Konzepte, Beratung und sonstige Unterstützungen sehr stringent voranzutreiben. Der Klima-Fonds enthält seit diesem Jahr auch ein Fördermodul für Maßnahmen zur energetischen Sanierung und Energieeffizienz.

Ein weiteres Stichwort sind die erneuerbaren Energien. Mit dem Klima-Fonds fördern wir seit Anfang 2021 Solaranlagen auf Dächern oder als Balkonanlagen. Der Fonds ist sehr beliebt, allein im letzten Jahr wurden etwa 500.000 Euro Förderung ausgeschüttet, was 370 Anlagen mit rund 2 Megawatt Peak entspricht. Wir bringen die Windenergie voran und auch für Photovoltaik-Freiflächenanlagen sind die Weichen gestellt. Die Stadtwerke Göttingen AG treibt den Fernwärmeausbau massiv voran. Unsere Mobilität wird elektrisch: Die Göttinger Verkehrsbetriebe bauen ihre E-Bus-Flotte und die dazugehörige Ladeinfrastruktur konsequent aus. In der Göttinger Weststadt wird es ein on-Demand-Angebot, also Busfahren auf Abruf, geben. Radwegeverbindungen, Fahrradstraßen und der e-Radschnellweg werden fortlaufend ausgebaut. Im Zukunftsforum Göttingen erarbeiten gerade zufällig ausgewählte Bürger*innen Leitlinien, wie Hauptverkehrsstraßen zukunftsfähig umgestaltet werden können. Göttingen ist niedersachsenweit auch Vorreiterin in Sachen Klimabudget als strategisches Planungsinstrument. Es zeigt, wie viel Geld im städtischen Haushalt sowie in den städtischen Beteiligungen für den Klimaschutz und die Klimaanpassung eingeplant und verausgabt wird. Gerade haben wir unser Informations- und Beratungsangebot zur Starkregenvorsorge für alle Grundstückseigentümer*innen präsentiert. Zudem wird aktuell ein Stadtwasser- und Hitzeplan entwickelt  mit dem Ziel, die Stadt zur Schwammstadt umzugestalten. Das Wohnquartier Grüne Mitte Ebertal erhält ein Klimaanpassungskonzept.

Sie sehen: Das, was die Stadt in ihrem Wirkungskreis machen kann, setzt sie konsequent um. Viele Projekte laufen bereits, parallel stecken weitere Projekte in den Startlöchern oder ihnen wird der Weg geebnet. Dabei ist es wichtig zu verstehen, dass in allen Bereichen gleichzeitig gearbeitet werden muss. Wir können das nicht mehr nacheinander abarbeiten, dazu fehlt ganz schlicht die Zeit.

meineRegion: Energieerzeugung, Mobilität, nachhaltiges Leben, Bauen und Wirtschaften, der Klimaplan umfasst zahlreiche Eckpunkte und Maßnahmen. Welches Thema bereitet Ihnen Stand heute die größten Kopfschmerzen?

Petra Broistedt: In allen Bereichen stehen wir heute vor großen Herausforderungen. Und in allen Bereichen hat die Stadt nur begrenzte Wirkungsmöglichkeiten. Um klimaneutral zu werden, müssen allerdings alle mit anpacken. Klimaschutz und Klimaanpassung können nur gelingen, wenn alle zusammenarbeiten: Die Stadt, die Unternehmen und Bürger*innen Göttingens und die übergeordneten Ebenen wie EU, Bund und Land. Es ist daher neben den vielen unterschiedlichen thematischen Handlungsfeldern eine der wichtigsten Herausforderungen, wie alle Bürger*innen erreicht und unterstützt werden können, sich am Klimaschutz zu beteiligen. 
Was mich aktuell sorgt, sind der Fachkräftemangel oder auch Lieferengpässe. Das haben wir letztes Jahr ganz besonders im Baubereich oder bei PV-Anlagen erlebt. Es gibt dadurch lange Wartezeiten, vieles wird deutlich teurer und das macht uns insgesamt langsamer beim Erreichen der Ziele.

meineRegion: Stichwort Verkehrsentwicklung: Stehen sich manche Ziele des Klimaplans nicht auch gegenseitig im Weg? So sorgt der Ausbau des Fernwärmenetzes über Jahre zusammen mit vielen anderen Baustellen immer wieder für endlose Staus in der Stadt!

Petra Broistedt: Natürlich lösen viele Klimaschutz- oder Klimaanpassungsmaßnahmen Bautätigkeiten aus, die vorübergehend zu Beeinträchtigungen führen. Das muss und wird mitbedacht. Aber daraus den Schluss zu ziehen, dass sich die Ziele unterschiedlicher Bereiche gegenseitig im Wege stehen, wäre zu kurz gedacht. In Ihrem Beispiel ist der Fernwärmemausbau ein notwendiger Schritt zum Ziel, und nicht das Ziel selbst. Und Straßen dienen eben nicht nur dem Autoverkehr, sondern müssen viele unterschiedliche Funktionen erfüllen: Unterirdisch werden die Leitungen für die Ver- und Entsorgung gelegt, sie sollen alle Verkehre und insbesondere den Umweltverbund, also Fußgänger*innen, Fahrrad und ÖPNV, bedienen, Bäume und Grünanlagen enthalten, die für den Klimaausgleich sorgen und allen Bürger*innen eine gute Aufenthaltsqualität bieten. Wir werden also in vielen Bereichen umdenken müssen, um die Klimaschutzziele zu erreichen.

meineRegion: Göttingen ist seit jeher eine kleine und sehr enge Großstadt. Stichwort Energieerzeugung: Woher sollen die Flächen für Photovoltaik-Parks, Windräder und nachhaltigen Wohnungsbau kommen?

Petra Broistedt: Klar ist: Es wird nicht die eine einzige Lösung geben. Wir brauchen sowohl PV-Anlagen, die auf Dächern oder anderen bereits versiegelten Flächen installiert werden müssen, als auch als Freiflächenanlagen. Die Potenzialanalysen des Masterplan 100% Klimaschutz haben gezeigt, dass Göttingen schon einen großen Teil seines Energiebedarfs auf eigenem Gebiet erzeugen kann, ohne dass es zu größeren Beeinträchtigungen kommt. Aber es wird darüber hinaus auch ein Anteil aus der Region notwendig sein, wie man es übrigens in allen Großstädten beobachten kann. Konkret ist auf Göttinger Gebiet bis 2030 der Bau von 8 bis 10 Windenergieanlagen mit einer Gesamtleistung von etwa 50 Megawatt und die Installation von PV-Anlagen mit einer Gesamtleistung von etwa 400 Megawatt Peak erforderlich und möglich, um im Plan zu bleiben.

meineRegion: Krieg in der Ukraine, Inflation, Energie-Krise, welche Auswirkungen könnte das auf die Umsetzung des Göttinger Klimaplans haben?

Petra Broistedt: Der Krieg in der Ukraine und die damit einhergehende Energiekrise haben uns vor Augen geführt, wie abhängig wir von Energielieferungen sind und wie wichtig die Themen Energieeffizienz und Energiesparen sind. Durch die Einstellung der Gaslieferungen aus Russland müssen wir noch viel stärkeres Gewicht in den Ausbau regional erzeugter Erneuerbarer Energien stecken. Das ist positiv für die Umsetzung des Klimaplans zu werten. Auf der anderen Seite schafft der Krieg natürlich auch viele andere drängenden Probleme wie zum Beispiel die Unterbringung von Menschen aus den Kriegsgebieten, die unseren vollen Einsatz erfordern.

meineRegion: Wie hoch schätzen Sie heute die Wahrscheinlichkeit ein, dass die Stadt Göttingen ihre Ziele bis 2030 erreicht? Sind noch Nachbesserungen oder Erneuerungen notwendig und welche Möglichkeiten hat da die Politik auf kommunaler Ebene?

Petra Broistedt: Ich hatte es ja bereits gesagt, dass die Stadt und die Politik es nicht allein schaffen können. Hier müssen sprichwörtlich alle mitmachen, damit uns diese Herausforderung gelingt. Klimaneutral bis 2030 zu werden, ist wirklich ein sehr ehrgeiziges Ziel. Vielleicht wird es keine Punktlandung, aber wir sind auf dem richtigen Weg zur Klimaneutralität. Wichtig ist deshalb, auch alles dafür zu tun. Dazu gehören auch politische Entscheidungen, die nicht immer leichtfallen, sowohl auf kommunaler Ebene als auch beim Land, beim Bund oder auf EU-Ebene. Die Devise muss dabei lauten, das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren.