Ärztemangel auf dem Land
- Von Susanne Wesche --
- 07.11.2024
Mehr als 500 unbesetzte Hausarztsitze und eine alternde Bevölkerung verschärfen die Versorgungslücken in ländlichen Regionen. Trotz der Landarztquote bleibt die Herausforderung groß. Der Ärztemangel auf dem Land ist eine der drängendsten Herausforderungen für die medizinische Versorgung in Niedersachsen. Besonders betroffen sind ländliche Gebiete, in denen immer weniger Haus- und Fachärzte bereit sind, sich niederzulassen. Prognosen zeigen, dass bis 2035 mehr als 60 Prozent der niedersächsischen Hausärzte im Ruhestand sein werden, was zu erheblichen Versorgungslücken führen könnte. Schon heute sind über 500 Hausarztsitze in Niedersachsen unbesetzt. In strukturschwachen Gebieten wird der Mangel besonders spürbar, da der Bedarf durch eine alternde Bevölkerung zunimmt. Die Landesregierung hat auf diese Entwicklung reagiert und die Landarztquote eingeführt. Seit 2023 werden 60 Studienplätze pro Jahr an Studierende vergeben, die sich verpflichten, nach ihrem Studium für mindestens zehn Jahre in einer unterversorgten ländlichen Region als Hausarzt zu arbeiten. Wir trafen Dr. Andreas Philippi, Niedersächsischer Gesundheitsminister und Dr. Achim Echtermeyer, Facharzt aus Scheden, zum Interview.
Dr. Philippi, wie schätzen Sie die aktuelle ärztliche Versorgungssituation im Landkreis Göttingen ein, insbesondere in den ländlichen Regionen?
Dr. Andreas Philippi: Zunächst ist allgemein festzuhalten: Niedersachsen und auch der Landkreis Göttingen ist im internationalen Vergleich gut mit Ärztinnen und Ärzten versorgt. Mit den Kapazitäten in Northeim, Göttingen und Goslar ist die Versorgung grundsätzlich sichergestellt. Die Region ist und bleibt attraktiv. Aber wir sehen, dass es teils ein großes Gefälle zwischen Stadt und Land gibt. Während Ballungsräume statistisch gesehen sehr gut bis überversorgt sind, zeigen sich im ländlichen Raum Deckungslücken. Zum anderen haben wir einen Mangel an Hausärztinnen und Hausärzten, die das Rückgrat bei der Grundversorgung der Bevölkerung bilden.
Die flächendeckende, wohnortnahe ambulante Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten und Fehlversorgung zu vermeiden, ist Aufgabe der Kassenärztlichen Vereinigungen. Dabei wird im Rahmen der sogenannten Bedarfsplanung u. a. festgelegt, wie viele Ärztinnen und Ärzte in einem bestimmten räumlichen Bereich tätig sein sollen.
Welche konkreten Maßnahmen plant das Land Niedersachsen, um den Hausärztemangel in ländlichen Gebieten zu beheben?
Dr. Andreas Philippi: Ungeachtet der Zuständigkeit der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) für die Sicherstellung der ambulanten Versorgung, unterstützt die Landesregierung deshalb auch die Arbeit der KVN seit vielen Jahren durch gezielte Maßnahmen. Hierzu zählen u. a. die Stipendienförderung von Medizinstudierenden, die sich nach Abschluss ihrer Ausbildung auf dem Land niederlassen wollen, die Förderung eines Quereinstiegs von Medizinerinnen und Medizinern in die Hausarzttätigkeit und die Einführung der Landarztquote. Dabei wurde eine Vorabquote für Medizinstudienplätze eingerichtet, auf die sich Studierwillige bewerben können , die später in ländlichen Regionen arbeiten wollen und sich dazu auch für einen gewissen Zeitraum verpflichten.
Als Land fördern wir gemeinsam mit unseren Projektpartnerinnen und -partnern der Selbstverwaltung zudem seit mehr als 10 Jahren die „Gesundheitsregionen in Niedersachsen“ dabei, die Versorgungsstrukturen neu zu denken. Es freut uns besonders, dass sich so viele Akteure engagiert in die GR Göttingen /Südniedersachsen einbringen, wie z. B. gerade mit einer Veranstaltung zur Gewinnung internationaler Arbeitskräfte oder der Ausschreibung des Gesundheitspreises Südniedersachsen „Jung hilft Alt, Alt hilft Jung“. Wir brauchen mehr träger- und sektorenübergreifende Kooperationen zwischen den einzelnen Akteurinnen und Akteuren.
Gibt es finanzielle Anreize für Ärzte, um Praxen auf dem Land zu eröffnen oder zu übernehmen?
Dr. Andreas Philippi: Wer sich in einem unterversorgten oder von Unterversorgung bedrohten Gebiet niederlässt, kann hohe Förderbeträge von der KVN erhalten. Für Neuniederlassungen oder Anstellungen im ländlichen Raum kann eine Förderung in Form eines Investitionskostenzuschusses in Höhe von maximal 60.000 Euro gewährt werden. Entsprechende Förderanträge können von Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, sowie MVZ gestellt werden, die eine Niederlassung anstreben oder Ärzte/Psychotherapeuten in einem Anstellungsverhältnis erstmalig beschäftigen werden. Die Förderung wird ausgeschrieben für Planungsbereiche, für die die KVN aufgrund des Versorgungsgrades und der Altersstruktur einen besonderen Besetzungsbedarf ermittelt.
Ebenfalls förderfähig ist in diesen Gebieten die Gründung einer Zweigpraxis mit einem Investitionskostenzuschuss in Höhe von maximal 30.000 Euro. Die Zweigpraxis muss mindestens fünf Jahre ausgeübt werden. Während dieses Zeitraums ist ein Sprechstundenangebot von mindestens zehn Stunden wöchentlich in der Zweigpraxis zu gewährleisten. Zusätzlich zu finanziellen Förderungen kann in bestimmten Gebieten eine Umsatzgarantie gewährt werden. Die Umsatzgarantie wird in Höhe des Fachgruppendurchschnitts der jeweiligen Arztgruppe des Vorjahresquartals gewährt und wird maximal für die ersten acht Quartale nach Aufnahme der vertragsärztlichen Tätigkeit bewilligt. Die Gewährung einer Förderung ist mit der Auflage verbunden, die vertragsärztliche Tätigkeit im Planungsbereich mindestens fünf Jahre auszuüben.
Weitere Infos gibt die Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen. Auch die Kommunen kennen die Bedeutung der ärztlichen Versorgung vor Ort als Standortfaktor. Zunehmend sind auch sie bereit, über finanzielle Starthilfen zu sprechen, wenn sich das Interesse an einer Niederlassung konkretisiert. Ergänzend wird noch einmal auf die Ausführungen zum Engagement des Landes im Rahmen der Förderung der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung bei der vorhergehenden Frage verwiesen.
Welche Rolle spielen telemedizinische Angebote in Ihren Plänen zur Verbesserung der medizinischen Versorgung auf dem Land?
Dr. Andreas Philippi: Einer der wesentlichen Ansätze: Telemedizinische Angebote können und sollen direkten Patientinnen- und Patientenkontakt nicht ersetzen, bieten aber gerade für ländliche Regionen neue Chancen. Videosprechstunden, zukünftig Kontakt zur Ärztin oder zum Arzt unter der Rufnummer 116117 bei kleineren Notfällen, Telenotärzte – all das kann Ärztinnen und Ärzte entlasten, damit sie mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten haben, die den direkten Kontakt brauchen.
Plant das Land, die Ausbildungskapazitäten für Allgemeinmediziner in der Region Göttingen zu erhöhen?
Dr. Andreas Philippi: Das Land investiert ab dem kommenden Jahr in 80 zusätzliche Medizinstudienplätze an der European Medical School. Das sind bei rund 250.000 Euro pro Studienplatz 20 Mio. Euro, die das Land dafür in die Hand nimmt. Da der Ärztemangel aber kurzfristig besteht und Studienplätze erst langfristig wirken, entwickeln wir als Land aktuell ein Aktionsprogramm für die Stärkung der Hausarztversorgung. Dabei sollen vor allem Strategien wie die Stärkung in Studium und Weiterbildung und die Entwicklung attraktiver Arbeitsbedingungen genutzt werden. Aktuell entscheiden sich zu wenige Studierende für das Fach Allgemeinmedizin – das wollen wir ändern. Es muss wieder attraktiver werden, Hausärztin oder -arzt zu werden.
Wie stellt das Land sicher, dass auch pflegebedürftige und ältere Menschen im ländlichen Raum eine umfassende ärztliche Betreuung erhalten?
Dr. Andreas Philippi: Eine wesentliche Neuerung ist die Einführung Regionaler Gesundheitszentren. Diese sektorenübergreifenden Einrichtungen bieten ambulante, stationäre und pflegerische Versorgung unter einem Dach. Die Patientinnen und Patienten sparen sich damit lange Wege und werden umfassend versorgt. Damit stellen wir sicher, dass auch in strukturschwachen Regionen eine umfassende Versorgung gewährleistet wird. In Niedersachsen haben wir in Ankum, Norden und Bad Gandersheim Pionierarbeit geleistet. Das RGZ in Bad Gandersheim ist einzigartig, da es aus einer Kooperation der Universitätsmedizin Göttingen, des Landkreises und der Stadt entstanden ist.
INTERVIEW mit Dr. Achim Echtermeyer, Facharzt aus Scheden
Dr. Echtermeyer, wie sehen Sie die aktuellen Herausforderungen in der ärztlichen Versorgung auf dem Land, insbesondere im Hinblick auf die Gewinnung von Nachfolgern für ländliche Arztpraxen?
Die größte Herausforderung ist sicher: Wie stellen sich bei sinkender Zahl an hausärztlichen Praxen die verbleibenden gegenüber dem Versorgungsbedarf der Menschen auf ? Nicht jede Praxis auf dem Land will oder kann sich ohne weiteres vergrößern. Der Arbeitsanfall ist groß genug, so dass zusätzliche Belastungen einfach nicht infrage kommen.
Die Anstellung von weiteren Ärzten ist limitiert, sowohl gesetzlich als auch finanziell. Das Modell scheitert auch daran, dass die Bereitschaft der nachfolgenden Ärztegenerationen aufs Land zu gehen, sehr gering ist. Auch die vermehrte Anstellung von Medizinischen Fachangestellten würde helfen, da an diese sehr viele Tätigkeiten delegiert werden können. (Z.B.: die „VERAH“, eine MFA fährt Hausbesuche misst den Blutdruck und bestimmt den Blutzucker, versorgt Wunden). Auch hier sind aber nicht genügend ausreichend qualifizierte Menschen auf dem Arbeitsmarkt zu finden.
Welche Maßnahmen oder Strategien ergreifen Sie, um einen Nachfolger für Ihre Praxis zu finden, und was könnte Ihrer Meinung nach von staatlicher oder kommunaler Seite unternommen werden, um diesen Prozess zu unterstützen?
Wir selbst bilden VERAHs aus und haben mehrere MFAs qualifiziert, die jetzt im Einsatz sind. Sie übernehmen wichtige Teile der Routineversorgung. Auch bilden wir zur Zeit zwei Weiterbildungsassistenten in der Allgemeinmedizin aus. Wobei der Begriff „Assistent“ fehlinterpretiert werden könnte: beide sind bereits Fachärzte ( internistisch bzw. pädiatrisch ). Beide gehen den Weg des „Quereinstiegs“ in die Allgemeinmedizin, dazu hat das Land Niedersachsen allerdings eine Weiterbildungszeit von 24 Monaten vorgeschrieben. Wir wollen, dass beide später in unserer Praxis auch weiterarbeiten. Krankenhäuser und andere gesundheitliche Einrichtungen beziehen neben den Einkünften von den Krankenkassen auch erhebliche Zuwendungen von Kommunen, Land und Bund. Sei es für die Renovierung, Neubau oder technische Infrastruktur. Eine niedergelassene Praxis muss ohne solche Zuschüsse auskommen. Die Krankenhäuser haben im Jahr 16,8 Millionen Behandlungsfälle, die ambulante Versorgung 729 Millionen Behandlungsfälle, dabei ist der Behandlungsfall im Krankenhaus doppelt so teuer. Deswegen sollte weiter die ambulante Behandlung gestärkt werden, eben auch im niedergelassenen Bereich. Ein Modell kann muss sein, dass die niedergelassene Ärztinnen/ Ärzte mit ihren Teams in nicht eigenen Räumlichkeiten arbeiten, die durch ihre Träger regelmäßig an die Bedürfnisse der Versorgung angepasst werden, und zwar mit öffentlichen Geldern.
Was sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten Gründe, warum sich junge Ärzte heute schwer tun, eine Praxis auf dem Land zu übernehmen, und welche Anreize könnten helfen, diese Entscheidung attraktiver zu machen?
Eine Praxis zu übernehmen, bedeutet immer noch, eine möglicherweise über Jahrzehnte langfristige Bindung, sowohl finanziell als auch persönlich, einzugehen. Das wirkt nicht mehr so attraktiv für heutige Lebensplanungen. Auch die Alleintätigkeit ist sowohl beruflich wie auch finanziell für niemanden mehr erstrebenswert. Letztlich müssen Praxen unterschiedliche Stellenangebote an Ärztinnen und Ärzte sowie MFAs machen können: Für Familien, Ledige, je für Männer und Frauen, mit u ohne Kinder usw. Die Praxen müssen technisch innovativ sein, die Lage auf dem Land erfordert gute Internetanbindung um z.B. auch an Fortbildungen im städtischen Bereich teilnehmen zu können.