Auf den Spuren einer Legende
Mille Miglia mit dem FlügeltürerSind 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden eine lange Zeit? Kommt drauf an. Aber ganz sicher
nicht, um 1955 rund 1000 Meilen von Brescia nach Rom und wieder zurück zu rasen. Das gelang
Rennstar Stirling Moss bei der Mille Miglia in Italien.
Wie groß der Mythos von Moss, Mercedes und Co. in Italien immer noch ist, lässt sich heute auf der Mille Miglia erleben. Die wird in Neuauflage seit 1977 wieder als Gleichmäßigkeitsfahrt für historische Autos ausgetragen ‐ auch ein erlesener Zirkel.
Wer einen qualifizierten Wagen hat und aktuell rund 10.000 Euro pro Team bezahlen kann, darf mitmachen. Wobei die Teilnehmergebühr noch der kleinste Batzen ist. Nur Autos dürfen starten, die schon bei den Originalrennen zwischen 1927 und 1957 gemeldet waren. So ist der Fuhrpark entsprechend edel ‐ und entsprechend teuer.
Und kaum ein anderes Auto ist so wertvoll wie der 300 SL Flügeltürer. Insgesamt baute Mercedes 1400 Flügeltürer von 1954 bis 1963 weitgehend in Handarbeit. Und so etwas ist kaum für weniger als siebenstellige Preise zu bekommen.
«Che bella macchina»
Und wohl kein anderes Auto hat auf den auch heute noch 1000 Meilen so viel Street Credibility wie der Flügeltürer. Statt sich darüber zu ärgern, dass der Mercedes oft die Kurven schneidet, sich im Ampelstau ganz links nach vorne mogelt, nur um am Ende doch rechts abzubiegen, oder beim Überholen auch mal den Gegenverkehr zum Bremsen zwingt, fliegen ihm überall die Herzen zu. Statt wüster Flüche schallt ihm immer und überall nur ein Satz ent‐
gegen, den man auch ohne Italienischkurs auf Anhieb versteht: «Che bella macchina»
Die italienische Liebe zum Auto ist heiß und innig. Und sie folgt hier buchstäblich ihren ganz eigenen Gesetzen. Selbst die Polizisten lächeln verzückt, wenn die Oldtimer jenseits des Limits über die Landstraßen fliegen. Sie sperren Kreuzungen, winken die PS‐Preziosen über rote Ampeln und geleiten die Klassik-Karawane im Zweifel mit Blaulicht und Vollgas durch die Rushhour, wenn das organisierte Chaos in Parma oder um Mailand herum mal wieder zu groß wird. Viele Tausend Zuschauer am Straßenrand geben jedem Teilnehmenden das Gefühl, ein Held zu sein, der wirklich etwas geleistet hat. Der Applaus für Stirling Moss kann nicht größer gewesen sein als die Begeisterung, die den rund 450 Oldtimern in jedem noch so kleinen Ort entgegenschlägt. Und je älter das Auto, je lauter der Motor und je schmutziger die Fahrer, desto frenetischer ist der Jubel.
Heiß, vergleichsweise unsicher ‑ und betörend
Dass der Flügeltürer schon 70 Jahre auf seinen schmalen Rädern hat, merkt man ihm dabei kaum an. Während andere Autos aus ähnlichen Baujahren noch wirken wie motorisierte Kutschen, fährt er (fast) wie ein modernes Auto ‐ von den zahnlosen Trommelbremsen mal abgesehen.
Ja, es wird höllisch heiß in der überraschend geräumigen Kabine, wenn man drin ist. Die spektakulären Flügeltüren über der hohen Brüstung erfordern zuvor ein bisschen Gymnastik. Und an einen Unfall denkt man besser erst gar nicht. Denn lange vor serienmäßigen Sicherheitsgurten oder gar ABS und ESP gibt es außer dem dünnen Gitterrohrrahmen hier nichts, was einem das Leben retten könnte. Doch der Motor schnurrt wie am ersten Tag, die Gänge flutschen nur so durch das vierstufige Getriebe. Und die Straßenlage schürt ein unerschütterliches Vertrauen in die Entwickler von einst. Drei Liter Hubraum haben die sechs in Reihe montierten Zylinder, mobilisieren dabei 158 kW/215 PS.
Die werden erst jenseits von 4000 Touren so richtig munter. Dann allerdings schießt der Silberpfeil durch die Toskana, die Marken oder das Latium, als gäbe es kein Halten mehr. Er lässt bei einem Sprintwert von rund zehn Sekunden auch viel jüngere Konkurrenten förmlich stehen. Die Zypressen am Wegesrand verwischen bei einem Spitzentempo weit jenseits der 200 km/h zu einem grünen Schleier. Zur Hälfte der Rallye rollen wir kurz vor Mitternacht in Rom ein, von der Polizei mit Vollgas ums Kolosseum herum durch die Ewige Stadt geleitet. Spätestens dann fühlt man sich tatsächlich wie Stirling Moss bei seiner Rekordfahrt für die Ewigkeit. Am Ende sitzen die Teilnehmer zwar fast viermal so lang im Auto wie der 2020 verstorbene Sir Stirling. Doch als der 300 SL nach 1000 Meilen auf rotem Teppich in Brescia über die Zielrampe rollt, sind 70 Jahre auf vier Tage zusammengeschmolzen ‐ und auf eine einzige Erkenntnis: Die Legende ist lebendiger denn je. (dpa)