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Artikelfoto Michael Schiwon / Caritas Südniedersachsen

Glücksmomente aktiv suchen

Neue Webseite im Landkreis Göttingen hilft gegen Corona-Blues

Erneut gestaltet sich der Winter unter Corona-Bedingungen für Kinder, Jugendliche und Eltern mit vielen Belastungen. Gegen schlechte Stimmung und regelrechten Corona-Blues sollen nun auch „Glücksmomente“ wirken, die durch die Familienzentren im Landkreis Göttingen und die Erziehungsberatungsstellen von AWO, Caritas und Landkreis verbreitet werden. Ihre Vorschläge veröffentlichen sie auf www.gluecksmomente-landkreisgoettingen.de gemeinsam. Wie es dazu kam, berichten im Interview Psychologin Dr. Rebekka Martínez Méndez und die beiden Sozialpädagogen Markus Piorunek und Michael Schiwon aus dem Team der Beratungsstelle für Kinder, Jugendliche und Eltern der Caritas Südniedersachsen.

 

meineregion: Wie ist die Idee zur Glücksmomente-Aktion entstanden?

Martínez Méndez: Unsere präventiven Angebote für Schüler und mit Elternkursen sowie Vorträgen fielen aufgrund der Kontaktbeschränkungen aus. Wir haben eine keimfreie, kontaktlose Alternative gesucht. So kamen wir auf die Idee, Podcasts zu produzieren, um Familien mit positiven Impulsen zu erreichen.

Piorunek: Wir geben kleine Anregungen, die sich mit einfachen Mitteln im Alltag umsetzen lassen. Bei allen Herausforderungen durch die Pandemie sollten auch die positiven Dinge des Alltags in den Blick genommen werden. Wir wollen den Familien das Gefühl der Selbst wirksamkeit ermöglichen, sodass ein Gegenpol entsteht zum Gefühl, dem Pandemie-Geschehen ausgeliefert zu sein. Unser aktueller Podcast regt über einen kleinen Kniff mit Murmeln an, die schönen Momente des Tages zu sammeln und die eigenen Sinne für die alltäglichen Geschehnisse und Begegnungen zu öffnen.

meineregion: Wie gestaltet sich die Situation aktuell, auch im Vergleich zum Winter 2020/21?

Schiwon: In unserer Beratungsstelle gibt es weiter eine hohe Nachfrage wegen psychischer Probleme, vor allem von Mädchen ab 12 Jahren und jungen Frauen. Verschärft hat sich im Vergleich zum vergangenen Jahr, dass es viel schwieriger geworden ist, bei Bedarf Therapeuten zu finden. Es gibt kaum freie Termine.

Martínez Méndez: Depressionen entwickeln sich schleichend. Die wechselnden Corona-Bestimmungen scheinen nochmal mehr Jugendliche in ihren psychischen Bewältigungs- und Anpassungsmöglichkeiten zu überfordern. Wir sehen eine Zuspitzung der Symptome. Unter den depressiven Verstimmungen und Ängsten, die wir begleiten, kommt vermehrt selbstverletzendes Verhalten, lebensmüde Gedanken, schwere soziale Ängste und auch ein gestörtes Schlaf- und Essverhalten vor.

Piorunek: Die Stressbewältigungsmöglichkeiten vieler Schülerinnen sind erschöpft. Und der Bildungsauftrag, den die Schulen gerade wegen der Sorge vor Bildungslücken aufgrund vergangener Schulschließungen sehr ernst nehmen, kommt bei Schülern als erhöhter Leistungsdruck an. Hier braucht es dringend Lösungen und einen Austausch über geeignete Nachteilsausgleiche aufgrund psychischer Erkrankungen.

meineregion: Woran denken Sie dabei?

Schiwon: Etwa das vermehrte Gewähren von Ersatzleistungen, Verlängerungen von Pausen-, Arbeits- und Vorbereitungszeiten. Und wir brauchen an den Schulen möglichst schnell wieder Präventionsprojekte zu psychischen Krisen. Selbst an Grundschulen würden präventive Projekte zu seelischer Gesundheit weiteren krisenhaften Zuspitzungen vorbeugen. Auch ein flächendeckender Einsatz von Schulsozialarbeitern würde wirken. Sie sind wichtige Netzwerkpartner für die Beratungsstellen.

meineregion: Gibt es typische Anzeichen für eine psychische Erkrankung, auf die Lehrkräfte achten können?

Martínez Méndez: Ein Großteil der weit verbreiteten psychischen Erkrankungen hat unter anderem massive Auswirkungen auf die Konzentrationsleistung und damit auf die Leistungsfähigkeit. Nur ein glückliches Kind kann lernen! Und an der Glücksfront gibt es gerade im Erleben von Jugendlichen Einbußen. Es fehlen viele Bonbons des Lebens. Das jugendliche Selbstbild ist zerbrechlich und im stetigen Wandel. Um zu wachsen, braucht es die Bestärkung von außen. In der Psychologie beschreiben wir das Phänomen mit der „Verstärkerverlusttheorie nach Lewinson“. Normalerweise regnet es jeden Tag Bonbons. Manche können die Bonbons des Lebens am Ende des Tages kaum nach Hause schleppen, bei manchen ist die Beute übersichtlicher. Doch die meisten sammeln wie beim Karnevalsumzug täglich ein paar Bonbons des Lebens ein. Nun regnet es seit zwei Jahren diese wichtigen Bonbons nur selten.

meineregion: Was genau meint die Verstärkerverlusttheorie?

Martínez Méndez: Wenn sich etwas Wichtiges im Leben verändert und andere, bisher wichtige Dinge verloren gehen, dann herrscht ein Mangel an positiven Erfahrungen und schwierige, anstrengende Erfahrungen überwiegen. In der Folge werden Menschen immer inaktiver, da die eigene Aktivität nicht belohnt wird. Die Belohnung, das sind die Rückmeldungen unserer Mitmenschen und das sind unsere persönlichen Erfolgserlebnisse. Wenn das eigene Verhalten in diesem Sinn kaum belohnt wird, wird die Aktivität immer mehr unterlassen. Der Rückzug in das eigene Zimmer verstärkt den Verlust an positivem Erleben. Es kommt zu depressiven Verstimmungen. Mit unserem Podcast und den anderen Vorschlägen für Glücksmomente wollen wir genau dort neue Perspektiven eröffnen, aktiv gegen den Corona-Blues.

Unter 08 00 / 1110 333 ist das Kummertelefon für Kinder und Jugendliche rund um die Uhr erreichbar. Dort gibt es auch Auskunft über die nächstgelegene Beratungsstelle.