„Unsere Leben mit fremden Herzen“
Irgendwann konnte es kein Zufall mehr sein: Als die Mutter der Großfamilie Stöneberg mit 59 im Jahr 1987 verstarb, hinterließ sie eine dramatische Lücke in der Familie.Mit 33 Jahren bemerkte auch Schwester Andrea, „dass sich etwas verändert.“ Sie sagt: „Das Treppensteigen fiel mir immer schwerer, ich bekam nur noch mühsam Luft. Ich konnte nicht mehr flach im Bett liegen und keine geschlossenen Räume ertragen.“ Lange hat sie versucht die Symptomatik zu ignorieren, bis eine Arbeitskollegin sie schließlich drängte, zum Kardiologen zu gehen. Die Diagnose: Dilatative Kardiomyopathie (Herzmuskelschwäche). Sie kam auf die Warteliste für ein Spenderherz. „Mir ging es zunehmend schlechter.“ Drei Wochen nach der Diagnose kam der Anruf: „Wir haben ein Herz für Sie.“ Die Operation verlief gut: „Ich bekam ein zweites Leben geschenkt“.
„Mit Anfang 50 wurde bei mir ebenfalls eine Herzmuskelschwäche festgestellt“, erzählt Volker Stöneberg. „Ab November 2012 verschlechterte sich mein Zustand dermaßen, dass ich im Mai 2013 aus dem Arbeitsleben ausscheiden musste.“ Es folgten zahlreiche Untersuchungen, bis schließlich im Juli 2013 ein Defibrillator implantiert wurde. Sobald sich die Herzfrequenz zu stark beschleunigt, gibt dieser einen oder mehrere Stromstöße an das Herz ab, die die Rhythmusstörung beenden.“ Im Mai 2016 wurde ich auf die Transplantationsliste gesetzt.“ Bereits 14 Tage später kam der erlösende Anruf: „Wir haben ein Herz für Sie!“ „Ich wurde in das Herz- und Diabeteszentrum Bad Oeynhausen gefahren und dann ging alles ganz schnell“, erinnert er sich. „Da gab es keine Zeit für lange Überlegungen oder Abschiede. Entweder hopp oder topp“, lächelt er heute.
„Ab dem Zeitpunkt, an dem Volker erkrankte, war mir klar: Das kann nicht normal sein“, erzählt Andrea Gorczynski. „Es musste doch eine Ursache, eine Verbindung zwischen den vielen Herzerkrankungen in unserer Familie geben.“ Doch für Grübeleien blieb wenig Zeit. Ihr Bruder war zuhause und Andreas´ Gesundheitszustand verschlechterte sich. Ihre Transplantation lag 25 Jahre zurück. Das Spenderherz wurde schwach. „Ich konnte keine hundert Meter mehr gehen.“ Weihnachten 2016 verbrachte sie unter größten Anstrengungen zuhause, bevor sie am 28. Dezember in die Göttinger Notfallambulanz eingeliefert wurde. Von dort aus ging es in das Herzund Diabeteszentrum Bad Oeynhausen. „Ich konnte nicht mehr aufstehen, konnte mich nicht mehr waschen.“ Wenige Tage später wurde sie auf die Hochdringlichkeitsstufe gesetzt.
Am 3. Februar wurde Andrea Gorczynski zum zweiten Mal in ihrem Leben ein neues Herz implantiert. „Es dauerte ein Jahr, bis ich wirklich wieder fit war.“ Und heute? Die Transplantationen der Herzen beider Geschwister liegen fünf bzw. sechs Jahre zurück. „Wenn ich laufe oder mich anstrenge, fühle ich mein Herz. Man hört schon viel genauer auf seinen Körper, auf den Herzschlag“, erklärt Andrea. „Ich empfinde eine unglaublich große Dankbarkein für den Spender“, ergänzt Volker.
„Organspende ist noch immer ein Tabu-Thema in vielen Familien“, weiß Volker Stöneberg. „Aber wenn unsere Spender und ihre Familien nicht darüber gesprochen hätten, wenn sie keinen Organspendeausweis gehabt hätten, wären auch ich und meine Schwester nicht mehr am Leben.“ Er kennt die Familie seines Spenders nicht. „Ich weiß, dass diese Familien ein unglaubliches Leid erfahren haben. Sie mussten den Verlust eines geliebten Menschen ertragen und verkraften. Und es gehört Größe dazu, sich dann bewusst dafür zu entscheiden, einem anderen Menschen in Not noch zu helfen.“ Da sei es gut, sich im Vorfeld mit dem Thema auseinander zu setzen. „So, wie wir Patientenverfügungen verfassen oder Testamente aufsetzen, müssen wir uns auch mit dem Thema Organspende beschäftigen“, appelliert Volker Stöneberg. „Das Thema muss an den Küchentisch, muss in Ruhe besprochen werden.“ Und alle sind sich einig: „Nachdem sich der Bundestag 2020 gegen die Einführung der Widerspruchslösung (siehe Info-Kasten) ausgesprochen hat, waren wir enttäuscht.“ Organspende wäre - nach ihrer Ansicht - für Spender*innen und Patienten*innen, „um ein Vielfaches vereinfacht worden.“ Inzwischen ist klar, dass es sich bei der Häufung der Herzerkrankungen innerhalb der Familie Stöneberg um einen Gendefekt handelt: Vier von sechs Geschwistern sind betroffen, zwei sind vollkommen gesund. Auch für die nicht betroffenen Familienmitglieder ist die Situation schwer: „Ich habe viele Jahre mit Schuldgefühlen zu kämpfen gehabt: Wieso bin ich gesund und meine Geschwister nicht“, erzählt Schwester Martina, die als Jüngste schon frühzeitig mit dem Tod der Mutter und der beiden Brüder konfrontiert wurde. Aber: „Wenn wir mit unserer Geschichte auch nur einen Menschen dazu bewegen können, einen Organspendeausweis auszufüllen, dann hat alles einen Sinn gehabt.“
Entscheidungslösungen zur Organspende
In Deutschland gilt die Entscheidungslösung. Organe und Gewebe dürfen nur dann nach dem Tod entnommen werden, wenn die verstorbene Person dem zu Lebzeiten zugestimmt hat. Liegt keine Entscheidung vor, werden die Angehörigen nach einer Entscheidung gefragt.
Die Widerspruchlösung wurde 2020 vom Bundestag abgelehnt: Hat die verstorbene Person einer Organspende zu Lebzeiten nicht ausdrücklich widersprochen, zum Beispiel in einem Widerspruchsregister, können Organe zur Transplantation entnommen werden. (Quelle: www.organspende-info.de)