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Artikelfoto Privat

„Wenn man geht, verabschiedet man sich nicht“

Die Geschichte einer Flucht und wie Hann. Münden ein Zuhause wurde

Berhan Aman kam im Mai 2015 nach Deutschland. Geboren wurde der heute 23-Jährige in einem kleinen Dorf in Eritrea. Als er sein Zuhause verließ, war er gerade einmal 16 Jahre. Er kam allein. Seine Eltern, eine Schwester und zwei Brüder hat er zurückgelassen.

„Es war frühmorgens. Wir sind von unserem Haus zum Garten gegangen, um die Felder zu bestellen. Und auf dem Weg zum Garten bin ich abgebogen. Ich bin in die andere Richtung gegangen“, erklärt Berhan Aman. Geplant hat er seine Flucht schon viele Wochen im Vorfeld. Er wollte seine Heimat verlassen, weil er dort, nach eigener Aussage, keine Zukunft hatte. Das Land ist geprägt von Armut und Hunger. Immer wieder schwelen Kriege, es kommt zu Auseinandersetzungen und Gewalt.

„Wenn man geht, verabschiedet man sich nicht.“ Der damals 16-Jährige hat seine Familie zurückgelassen, ohne sie ein letztes Mal in den Arm zu nehmen. „Meine Eltern hätten mich nie gehen lassen. Sie haben Angst. Immer. Man geht heimlich.“

Von Eritrea aus ging er nach Äthiopien. Er lief zu Fuß sieben Stunden und passierte die Grenze. Dort wurde er vom Militär aufgegriffen. Zusammen mit anderen Flüchtlingen brachte man ihn zu verschiedenen Sammelpunkten des Landes. „Von dort musste ich wieder heimlich fliehen.“ Andernfalls wäre er zurückgebracht worden.

Weiter ging es mit so genannten „Schleppern“. „Man schafft es nicht allein aus dem Land heraus. Aber ich wollte und konnte nicht zurück. Ich habe dafür bezahlt, dass man mich außer Landes gebracht hat.“ Seine weitere Reise dauerte eine lange Woche, bis er den Sudan erreichte. Die Strecke wurde über große Teile des Weges mit einem Transporter zurückgelegt. „Im Sudan habe ich dann zwei Monate gewohnt.“ Doch auch aus dem Sudan floh der 16-Jährige - „Wieder heimlich“, wie er erzählt und erreichte unter körperlichen Strapazen Libyen.

„Der Teil des Weges war richtig schlimm.“ Unterwegs gibt es nach seiner Aussage, keine Möglichkeit an lebensrettendes Wasser zu gelangen. „Wer nicht genug Flüssigkeit bei sich hatte, ist verdurstet.“ Viele Menschen habe er leiden und sterben sehen. Die Reise schien unendlich lang: Mehr als eine Woche war er unterwegs, um das europäische Festland zu erreichen. Er kam in Italien an und blieb in einem Heim für minderjährige Flüchtlinge.

Und wieder ergriff er die Flucht. „Es war gut in Italien, aber es gab dort keine Perspektive für mich.“ Schnell habe er gemerkt, dass er dort keine neue Heimat, keine Zuflucht finden würde. Über Österreich kam er nach Deutschland. Vom bayerischen Trier aus, in dem Berhan Aman für zwei Monate verweilte, schickten ihn die deutschen Behörden nach Hamburg. „In einer großen Halle lebte ich einen Monat lang.“ Dann wurde er nach Friedland und nach Göttingen geschickt. Hier meldete er seinen Flüchtlingsstatus an. Er kam nach Hann. Münden in die Kurhessenkaserne. Die Jugendhilfe Südniedersachsen (JSN) nahm ihn dort als unbegleiteten minderjährigen Flüchtling auf. Zum ersten Mal fand er ein Zuhause auf Zeit. Bis Ende 2017 blieb er dort, wechselte dann in eine Unterkunft an der Kasseler Schlagd bevor er seine eigene Wohnung in der Zimmerbreite bezog.

In Eritrea war Berhan Aman nie in der Schule. „Meine Eltern sind Bauern. Wir hatten einen Garten und meine Kindheit habe ich dort verbracht. Wir haben Obst und Gemüse angebaut.“ Pfeffer, Tomaten, Mango, Orangen und Papaya waren dabei, erinnert er sich. Die Ernte wurde verkauft und sicherte so das geringe Einkommen der Familie.

Als er in Hann. Münden ankam, nahm er an einem Deutschkurs teil. Zum ersten Mal in seinem Leben saß er an einem Schultisch. „Es funktionierte gut, obwohl ich das nicht erwartet hatte. Man könnte denken, dass ich hier gar nicht zurechtkommen würde – aber es hat geklappt.“ Und der Jugendliche kämpfte weiter für seinen Erfolg, belegte Kurse, besuchte die Schule. Derzeit macht er, nur sechs Jahre nach seiner Ankunft in Deutschland, sein Fachabitur an der Hann. Mündener BBS. Den praktischen Teil des Schulabschlusses absolviert er bei dem Gemeinnützigen Bauverein eG. Hier ist er für die Rechnungseingangskontrolle und die Digitalisierung der Akten zuständig.

Sein größter Wunsch ist es, „weiterzukommen“. „Ich überlege, ob ich es schaffe, an der Universität zu studieren.“ Ein Studium im Bereich der „Öffentlichen Verwaltung“ interessiert ihn. Oder Architektur. „Darüber habe ich viel gelesen. Das ist sehr schwer und ich habe Sorgen, ob ich das schaffen kann, aber ich werde alles dafür tun.“ Mit seiner Familie hat er regelmäßig Kontakt. In den ersten Jahren hat er sie nach eigenen Angaben „sehr vermisst“. Seine Eltern machen sich Sorgen: „Sie wissen nicht, wie gut ich es hier habe. Auch wenn ich sage, mir geht’s bestens, glauben sie mir das nicht.“

Seit 2015 hat er seine Eltern nicht mehr gesehen. „Im Moment kann man das auch nicht so einfach organisieren.“ Seine zwei ebenfalls geflüchteten Brüder sind nicht in Deutschland. Ein Bruder ist in Norwegen, der andere ist zurück nach Äthiopien gegangen. In Hann. Münden fühlt sich Berhan Aman inzwischen heimisch. Er würde gern hierbleiben, wenn er wegen des Studiums nicht umziehen muss. Auf unsere Frage, ob er stolz sei auf sein Erreichtes, antwortet er: „Ich bin nicht stolz auf mich. Ich stehe noch ganz am Anfang und ich werde das Gefühl nicht los, dass ich noch mehr erreichen will und muss.“ Rechnen und Schreiben will er noch verbessern. „Ich muss mich sehr bemühen. Vieles fällt mir nicht einfach so zu, sondern ich muss viel üben und lernen.“