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Artikelfoto Lindemeier

„Wir verpflegten und bedienten die Olympia-Stars aus aller Welt“

Die damaligen Göttinger Studenten Birgitt und Andreas Lindemeier waren vor 50 Jahren bei der Olympiade 1972 in München live vor Ort dabei

Vom 26. August bis zum 11. September 1972 fanden die Olympischen Spiele in München statt. Es sollten weltoffene, bunte und fröhliche Spiele werden. Doch es kam ganz anders. Der Terroranschlag auf das israelische Team versetzte nicht nur ein ganzes Land, sondern die ganze Welt in einen Schockzustand. 50 Jahre später traf sich meineRegion Göttingen mit Andreas (69) und Birgitt (70) Lindemeier aus Hardegsen. Sie waren vor 50 Jahren hautnah und live dabei, lebten und arbeiteten mitten im olympischen Dorf, um in der dortigen Mensa Weltstars wie Mark Spitz und Olga Korbut oder die damaligen deutschen Olympiasieger wie Heide Rosendahl, Ulrike Meyfarth oder Klaus Wolfermann zu verpflegen.  Nach dem Gespräch im heimischen Garten in Hardegsen wird deutlich: Die Erlebnisse vor 50 Jahren haben das Ehepaar Lindemeier ihr Leben lang begleitet und beschäftigen sie noch heute.

Der pensionierte Lehrer Andreas Lindemeier ist fast jedem in der Region Südniedersachsen als ehemaliger Hallensprecher des Basketball-Bundesligisten BG Göttingen oder als Moderator zahlreicher Sport-Events wie Göttinger Altstadtlauf, Sport meets Music oder Tour d‘Energie bekannt. Seine Frau Birgitt lernte er am Göttinger Felix-Klein-Gymnasium kennen. Sie jobte damals in der Studentenvermittlung des Arbeitsamtes Göttingen und bekam so Anträge der Firma Kempinski für einen Arbeitsvertrag bei den Olympischen Spielen in die Hände. Ihr Freund Andreas lag damals nach einer Mandel-Operation im Krankenhaus, bei einem Besuch brachte sie unterschriftsreife Verträge mit ans Bett. „Wenn wir schon nicht um die Welt reisen können, sollten wir die Gelegenheit nutzen, wenn die Welt zu uns kommt“, waren sich beide schnell einig. Pünktlich zu seinem 19. Geburtstag hatten beide einen gegengezeichneten Arbeitsvertrag im Briefkasten und waren somit offizielle Olympia-Teilnehmer. Am 24. Juli ging es mit dem Zug aus Göttingen Richtung München. „Für uns Kinder vom Lande aus der südniedersächsischen Provinz war es nicht nur das erste Zusammentreffen und Zusammenleben mit anderen Kulturen, unterschiedlichen Hautfarben und fremden Sprachen, wir sollten auch zum ersten Mal den Kosmos Großstadt erleben“, erzählt Andreas. Und: „Wir fuhren zum ersten Mal U-Bahn und aßen Pizza!“

Auf einem Zimmer mit „Manni Breuckmann“ 

Nach der Ankunft dann die erste große Überraschung: „Wir wurden wie alle Kempinski-Beschäftigten direkt im olympischen Dorf untergebracht.“  Und während bei den Athleten Männer und Frauen strikt getrennt untergebracht wurden – es gab tatsächlich ein Männerdorf und ein von mannshohen Zäunen abgeriegeltes Frauendorf – wohnten die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die in der Mensa arbeiteten, unter einem Dach: Birgitt im 1. und Andreas im 3. Obergeschoss. „Ich teilte die Wohnung mit Christoph, einem ruhigen Physik-Studenten aus Münster, einem Schneidermeister namens Rudolf aus Fladnitz bei Graz und mit Manfred „Manni“ Breuckmann zusammen, der später Karriere als legendärer Fußball-Reporter machte“, erzählt Andreas. Freundin Birgitt teilte sich die Zimmer zwei Stockwerke tiefer mit zwei Amerikanerinnen und einer Israelitin.   

Pommes und Fischstäbchen frittieren für die Olympiastars

Die Arbeitszeiten und -bereiche waren allerdings sehr unterschiedlich. Andreas war als Transportarbeiter von 20 bis 3 Uhr eingeteilt, seine Freundin Birgitt arbeitete als Buffetkraft von 5.30 bis 14 Uhr. Gearbeitet wurde bei nur einem freien Tag 54 Stunden die Woche, der Lohn  betrug 900 DM, darin bereits enthalten waren 250 DM „Durchhalteprämie“, die jedem Arbeitnehmer erst am Ende der Vertragszeit ausgezahlt wurde. Andreas: „Mein Arbeitsplatz war die Durchlauffritteuse, ein Monsterteil, etwa drei Meter lang und einen Meter breit. Vorne wurden zentnerweise die Pommes, Kroketten oder Fischstäbchen reingeschüttet und hinten mit einem Großbehälter aufgefangen. Letzteres war meine Aufgabe, aber von Kochen konnte da keine Rede sein. Und mit den Kroketten hat es überhaupt nicht geklappt, die wurden gleich zu Beginn komplett gestrichen.“ Da die Stellen großzügig besetzt waren, konnte fast immer einer Pause machen, „da hatte ich es deutlich besser als Birgitt.“ Seine Frau war als Buffetkraft ab 5.30 Uhr in der Essensausgabe im Einsatz: „Da musste ich mich um alles kümmern, Marmelade, Butter und andere Dinge nachfüllen, Essen ausgeben, die Kaffeemaschinen am Laufen halten und vieles mehr“, bestätigt Birgitt. 

Stars wie Olga Korbut oder die US-Basketballer live erlebt

Gleich nach dem Einchecken war das Paar aus Südniedersachsen mit dem Olympia-Pass ausgestattet worden. Der kleine Plastikausweis bestand aus einem Passfoto, der Abkürzung „ODM“ für „Olympisches Dorfmitglied“ und dem Buchstaben „Z“ für „Zivilangestellter“. Andreas: „Zu unserer Verwunderung kamen wir mit diesem Ausweis fast überall hin.“ Da er im Gegensatz zu seiner Freundin auch deutlich mehr Freizeit hatte, nutzte er dies auch reichlich aus. „Ich fuhr mit dem Basketball-Team von Puerto Rico im Shuttlebus in die Arena, kam durch alle Kontrollen im Leichtathletikstadion und konnte mich überall im Olympischen Dorf frei bewegen“, erinnert sich der Hardegser. So kam er in den Genuss, Olga Korbut am Schwebebalken oder die Basketball-Partie USA gegen Australien live zu erleben, auch bei einem Vorlauf von Mark Spitz war er dabei. „Dann scheiterte ich aber im Schwimmstadion an einer pflichtbewussten Oberstufenschülerin kurz vor dem Ziel, sie hatte das Z auf meinen Ausweis gesehen und ließ mich nicht durch. So musste Mark Spitz an diesem Tag ohne mich seine Goldmedaille gewinnen!“

Zudem legte sich Andreas zu Beginn der Spiele für wenig Geld in einem Sportlershop einen ballonseidenen Trainingsanzug zu. In dem Outfit wurde er doch tatsächlich regelmäßig von Autogrammjägern angesprochen: „Ich unterschrieb dann immer ganz stolz mit ‚Andrew Mayer, New Zealand, Rowing‘ und die Fans freuten sich“, freut sich der 69-jährige noch 50 Jahre später über seinen Streich. Andreas selbst traf im Olympischen Dorf auch immer wieder mal Sportlegenden und Idole wie den Ringer Wilfried Dietrich oder Rudi Altig, der die deutsche Straßenradmannschaft betreute. Sein einzigstes Autogramm holte er sich von Chi Cheng, der hübschen Weltrekordhalterin über 200 Meter, die besonders im Blickpunkt der Medien stand.

Partynacht mit Breuckmann und Silbermedaillen-Gewinner 

Im olymischen Dorf stieg die Stimmung von Tag zu Tag, beflügelt durch die sensationellen Erfolge der deutschen Leichathleten Heide Rosendahl, Ulrike Meyfarth und Klaus Wolfermann. Und der 17-stöckige Kempinski-Wohnblock entwickelte sich immer mehr zur Disco- und Partymeile. „Nur in unserem Hochhaus lebten Frauen im Männerdorf. Dementsprechend bunt war das Treiben. Wollte man eine Party feiern, schaute man vom Balkon aus nach oben, lokalisierte das lauteste Treiben, fuhr mit den Fahrstuhl aufwärts in die vermutete Party-Etage, in der man nur noch der Lautstärke folgen musste und schon war man mitten drin“, erinnern sich die Lindemeiers. Andreas hat vor allem eine Nacht in besonderer Erinnerung. 

Eines Tages standen Manni Breuckmann und er auf dem Balkon und sahen unten einen einsamen, kleinen Mann mit einer Medaille um den Hals. Sie riefen runter, was los sei und er antwortete, dass er amerikanischer Ringer sei und die Silbermedaille gewonnen habe. Warum er dann nicht mit seinem Team feiere, fragten die beiden. Ringen interessiert in Amerika kaum jemanden, so die Antwort. Andreas und Manni luden ihn prompt zur Siegesfeier in ihr Zimmer ein. Andreas: „Der Mann hieß Richard Joseph Sanders und er freute sich wie Bolle. 

Wir gingen zu einer nahe gelegenen Tankstelle, kauften eine Kiste billigstes Bier und zogen damit an den Torwächtern vorbei auf unser Zimmer. Dort leerten wir die Kiste und stellten sie verkehrt herum in die Mitte des Raumes. Während wir Flasche für Flasche austranken, stellten Manni und ich uns immer wieder auf die Kiste, hängten uns abwechselnd die Medaille um und fühlten uns für eine Nacht wie ein Silbermedaillen-Gewinner. Und Rick Sanders war bald betrunken, aber happy!“   

Die Geiselnahme und Katastrophe 

Im olympischen Dorf herrschte ein buntes und unbeschwertes Treiben, doch das sollte sich am frühen Morgen des 5. September schlagartig ändern, „der Tag, der uns Terror und Angst um das eigene Leben näherbrachte“, zeigen sich Birgitt und Andreas auch 50 Jahre später noch geschockt, als sei es gerade gestern gewesen. Gegen 4.10 Uhr hatten Mitglieder der arabischen Terrororganisation Schwarzer September einen Anschlag auf das israelische Team verübt, ein Sportler starb sofort,  ein zweiter  erlag wenig später seinen Verletzungen.  Die Kempinski-Beschäftigten bekamen davon zunächst nichts mit. „Aufgeschreckt wurden wir so gegen 8 Uhr durch eine zentrale Durchsage. Wir wurden aufgefordert, in den Zimmern zu bleiben, es bestehe Gefahren-Alarm. 

So hockten wir in den Zimmern, ohne jegliche Informationen“, erinnert sich Andreas. Noch heute läuft das ­Schreckensszenario vor seinen Augen ab: „Wir schauten vom Balkon auf ein merkwürdig stilles und leeres Dorf. Viele Martinshörner waren zu hören. Meine Angst wuchs. Es gab weder Telefon noch Radio oder Fernseher auf den Zimmern. So gegen 11 Uhr durften wir dann endlich raus. Ich rief in der Einkaufspassage unter meinen Zimmer aus einer Telefonzelle meine Mutter Gabriele an. Sie erklärte mir aus dem 500 Kilometer entfernt liegenden Hardegsen, was 150 Meter von meinem Zimmer entfernt geschehen und gerade passiert ist!“ 

„Terroristen und Geiseln direkt vor unseren Augen“ 

50 Meter von den Zimmern der Lindemeiers entfernt tagte im Verwaltungsgebäude der Krisenstab, begleitet von Innenminister Hans-Dietrich Genscher, zeitweise kam auch Bundeskanzler Willy Brandt dazu. Plötzlich hieß es im Fernsehen, die Attentäter sollen mit ihren Geiseln ausgeflogen werden, um 22.06 Uhr bestiegen Attentäter und Geiseln einen bereitstehenden Bus, der sie zu zwei wartenden Hubschraubern brachte. „Direkt vor unseren Augen bestiegen neun Geiseln und acht schwer bewaffnete Terroristen aufgeteilt in zwei Gruppen die beiden Hubschrauber. Ohnmächtig, erstarrt und voller Zorn sahen wir dem Geschehen aus kurzer Entfernung hilflos zu“, haben die Lindemeiers die Bilder heute noch deutlich vor Augen. 

Der Rest ist heute bestens bekannt: Während Regierungssprecher Conrad Ahlers noch am 6. September um 0.05 Uhr im TV von einer „glücklichen und gut verlaufenen Aktion“ sprach, wurde auf dem Flughafen Fürstenfeldbruck noch geschossen, die versuchte Befreiung der Geiseln endete im Fiasko: Alle neun Geiseln und ein Polizist kamen ums Leben, fünf Attentäter wurden erschossen, die restlichen drei festgenommen.

„Das alles erfuhren wir erst am nächsten Morgen. Nichts war mehr so wie vorher, die heiteren Spiele waren beendet. Es herrschte eine tiefe und traurige Stimmung im Dorf“, sagt Andreas. Auch wenn der IOC-Präsident nach einem Trauertag Pause verkündete „The games must go on“,  Athleten, Trainerteams und Mitarbeiter befanden sich weiterhin in Schockstarre. „Auch in der Mensa war das Attentat ständiges Thema, die Trauer war überall spürbar und belasteten den Aufenthalt im olympischen Dorf bis zum Ende der Spiele am 11. September“, hatten sich auch die Lindemeiers ein anderes Ende ihres Abenteuers Olympia 1972 erhofft. Ihr Fazit: „Am 19. September setzten wir uns sehr früh morgens in den Zug und fuhren zurück nach Göttingen. Wir hatten durchgehalten, sehr viele Eindrücke gesammelt und nachhaltige Erfahrungen gemacht. Wir haben Weltoffenheit erlebt und viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Kulturen kennengelernt. Wir sind aber auch als behütete Nachkriegskinder zum ersten Mal mit Terror und Lebensangst konfrontiert worden.“